Das kalte Jahr: Roman (German Edition)
beinah drohend, vielleicht auch ein wenig verletzt, und ich schaue zurück zu Helbig und lüge, oder vielleicht lüge ich ja auch nicht, jedenfalls sage ich: Es geht ihnen gut.
Na, das ist doch gut, sagt Helbig, und dann bietet er uns etwas zu trinken an, geht voran in die Küche, Richard läuft ihm hinterher, und ich schaue noch für einen Moment durch die staubigen Fenster nach draußen, wo das Licht schon eine hellblaue Farbe bekommen hat von der schleichenden Dämmerung des Nachmittags.
Oben an der Decke der Werkstatt, das fällt mir dann erst auf, hängt eine große Industrielampe an einem mächtigen Haken, der ursprünglich wohl für einen Kronleuchter gedacht war.
Ich erinnere mich daran, die Fernsehübertragung einer aufwendigen Galaveranstaltung aufgenommen zu haben, in der eine dicke Frau mit hochgedrückten Brüsten vor dem hingehaltenen Mikrofon einer Sendeanstalt verschiedene Posen machte und dabei pausenlos kicherte. Als würde sie fotografiert. Sie wurde aber gefilmt.
Helbig sitzt halb auf der Arbeitsfläche einer alten Anrichte mit Aufbau, in der sich Tassen und Teller hinter kleinen bunten Riffelglasfensterchen befinden. Neben ihm steht ein Teekessel über dem blauen Flammenkranz auf dem Gasherd, Richard sitzt auf der Bank am Esstisch, hat sich die Hände unter den Po geschoben, schaut seinen in der Luft baumelnden Beinen zu und sieht sehr zufrieden dabei aus.
Hier hat sich nicht viel verändert, sagt Helbig und deutet an mir vorbei durch die Tür in die Werkstatt. Ich habe immer zu tun, wenn die Leute sterben oder etwas repariert werden muss. Bei den Grabkreuzen, das habe ich mir heute erst wieder gedacht, sagt er, und sieht dabei auf seine über die Jahre verhornte und breitgearbeitete rechte Hand, komme ich immer noch nicht über den Schauer vor der Anmaßung hinweg, wenn ich mir vorstelle, dass die Leute das, was ich da herstelle, in Zukunft immer ansehen werden, bei dem Versuch sich zu erinnern oder zu vergewissern, dass es ihre gestorbenen Nächsten wirklich einmal gegeben hat.
Er schaut etwas unsicher, vielleicht auch entschuldigend rüber zu Richard, als hätte er selbst Zweifel daran, ob das jetzt das richtige Thema ist für ein Kind. Der Teekessel beginnt leise zu pfeifen, und in das anschwellende hohe Geräusch hinein erzähle ich Helbig davon, dass ich die Arbeit bei Letterau wieder aufgenommen habe. Und zum ersten Mal fühle ich einen gewissen Stolz darauf, einem verantwortungsvollen Handwerk nachzugehen, obwohl ich ja im Grunde nichts davon verstehe. Ich glaube, dass da etwas wie Anerkennung in Helbigs Gesicht zu sehen war. Ein kameradschaftliches Lächeln, ein Erinnern an die eigenen Anfänge.
Ich erzähle Helbig, dass ich aus der Großstadt auf meinen Füßen zurück in den Ort gekommen bin, von einigen Dingen, die ich auf dem Weg gesehen habe.
Ich wähle aus und erzähle auf eine Art, von der ich glaube, sie könnte ihm gefallen oder vielleicht auch ein wenig imponieren. Von meiner Wohnung in der Stadt, denke ich kurz, könnte ich ihm erzählen, aber mir fällt auf, dass sie zu einem merkwürdig unscharfen, blinden Gebilde geworden ist, ich kann sie nicht mehr in Gedanken abschreiten, bin mir plötzlich nicht mehr sicher, ob das Badezimmer neben der Küche gewesen ist, ob ich eine Wanne oder eine Duschkabine hatte, einen Balkon, richtig konkret kann ich an diesem Nachmittag in meiner Erinnerung nur zurückgehen an den Punkt, als die Hochhäuser am Stadtrand im grauweißen Dunst verschwunden sind.
Ich werde von diesen Gedanken erst etwas unruhig und dann sehr still. Für eine Weile sitzen Helbig, Richard und ich schweigend um den Küchentisch, hin und wieder wird dampfender Tee eingegossen. Die Küche ist nicht beheizt, Helbig hat sich eine dicke Strickjacke übergezogen, und Richard und ich sitzen in Winterjacke und Mantel am Tisch.
Helbig schaut selbst eine Zeit lang auf die Tischplatte wie in sein Gedächtnis, und als wir ganz lange schon nicht mehr gesprochen haben in seinem nach frischem Holzschnitt duftenden Haus, fängt er plötzlich zu lächeln an und sagt mit einem langsam hin und her wandernden Kopf: Wie wir hier sitzen.
Helbig erzählt uns, das wissen Sie bestimmt nicht, sagt er, dass er für einige Jahre studiert hat in der nahen Universitätsstadt. Und er erinnert sich, das erzählt er uns, wie er oft nach den Vorlesungen, nach Veranstaltungen mit einem lesenden Gast oder einem vorgeführten Film, lange Zeit auf seinem Stuhl sitzen geblieben ist und auf das
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