Das kalte Jahr: Roman (German Edition)
der Zwischenzeit. Er sieht aber sehr wach aus und gar nicht unfreundlich, obwohl er ja gerade von seiner Arbeit weggeholt und abgehalten wurde. Er schaut uns an und sagt: Ja, bitte? oder guten Tag oder was kann ich für Sie tun, ich kann mich nicht mehr genau erinnern, aber ich war auch sehr nervös. Ich wollte gleich herausfinden, ob wir ihn störten mit unserem unangekündigten Besuch, schaute sein Gesicht ab nach Zeichen dafür, fand aber, es sah gleichzeitig aufgeschlossen und reserviert aus.
Ich sage: Guten Tag und: Herr Helbig, weil ich fand, ich könnte ihn nicht einfach so Willy nennen nach der langen Zeit, ich war ja noch gar nicht von ihm erkannt worden. Und dann sage ich meinen Namen und Helbig legt sich in einer schnellen Bewegung die Hand auf den Mund, sieht dabei aber ganz anders aus als der alte Löwe, erstaunt, mit leuchtenden Augen, so, dass ich gleich nochmal etwas wie meinen Namen sagen möchte, was aber leider nicht geht und deshalb zeige ich auf Richard und sage: Und das ist Richard, und Helbig streckt ihm die Hand hin und sagt: Hallo.
Wir werden hereingebeten. Zuerst in einen gefliesten Eingangsbereich, von dem braunlackierte Türen abgehen und eine Treppe ins obere Stockwerk. Helbig geht voran durch eine Art Portal mit offen stehender Flügeltür in die Werkstatt, den größten Raum im Haus. Die Decke ist sehr hoch und an den Rändern mit Stuck verziert. Lange Holzlatten lehnen an den Wänden, auf dem Stuck hat sich schwarzgrauer Staub angesammelt und in den Ecken dunkle Spinnweben. Der Fußboden der Werkstatt besteht aus hochwertigem Tafelparkett, auf dem sich überall in einer dicken Schicht Staub und Späne angesammelt haben. Richard zieht seine Füße über den Boden beim Gehen und macht durchgängige Spuren in die Staubschicht. Wie Langlaufloipen, denke ich.
Neben dem Durchgang in den Hausflur, durch den wir gekommen sind, befindet sich eine große, gusseiserne Tür mit floralen Verzierungen, dahinter eine Ofenklappe, eine Art Zentralofen, der das ganze Haus mit Wärme versorgt, daneben noch eine Tür, in die Küche mit dem großen Esstisch und dann die Wand mit den ebenfalls von Stuck umrahmten Sprossenfenstern in den Garten, die gar nicht mehr zu öffnen sind, weil sich vor ihnen Lackeimer und kleine Kästen mit Schubfächern für Schrauben und Nägel befinden, aufgerolltes Zeitungspapier, Einmachgläser, in denen unterschiedlich große Pinsel stecken, Schleifpapierblöcke und abgeschnittene Plastikflaschen voll trüber Flüssigkeit.
Die Werkstatt muss früher einmal ein Versammlungsraum oder ein kleiner Ballsaal gewesen sein, ich kann gar nicht schätzen aus welcher Zeit und was für eine Art von Gesellschaft hier vor ihrem Niedergang getanzt hat oder sich beraten über die Zukunft und die nächste Zeit. Die Ofentür in der Wand steht weit offen, wahrscheinlich, damit sich die Wärme der Glut in der Werkstatt verteilt und nicht im Haus. Ich finde das gefährlich, vor allem wegen der Holzarbeiten und der Späne, aber Richard stellt sich gleich davor und schaut mit großer Faszination hinein, das orangerote Leuchten als Widerschein auf dem Gesicht.
Ich sehe ein paar Grabkreuze, die fertig geschnitzt voreinander an die Wand geschichtet sind ohne Inschrift oder Bemalung. Und Helbig sehe ich gleich an ein großes Bettgestell herantreten, das er offensichtlich gerade umbaut oder restauriert, jedenfalls nimmt er ein feinkörniges Schleifpapier in die Hand und reibt es eher unbeteiligt über einen der Pfosten. Ich freue mich über Ihren Besuch, sagt er, und ich weiß nicht recht, ob er jetzt Sie sagt zu mir, weil ich Sie zu ihm gesagt habe, ob er Richard damit auch gleich mitsiezt, oder ob es eine Bekundung seines Respekts vor meinem zwischenzeitlich angehäuften Alter ist.
Und dann merke ich, dass ich gar nichts gesagt habe, dass es vielleicht ja unhöflich ist, jemanden zu besuchen und gar nichts zu sagen und deshalb sage ich: Ja, ich auch, und: Es gefällt mir sehr gut bei Ihnen.
Helbig lächelt und dann schaut er mir ins Gesicht und fragt mich, wie es denn meinen Eltern geht. Er habe sie ja schon sehr lange nicht mehr gesehen.
Ich spüre kurz ein Zerren in meinem Nacken, so als hätte ich da eine Fellfalte und würde hochgehoben, dann gleichzeitig etwas Schweres, das sich auf meine Schultern legt, eine unsichtbare Sänfte vielleicht, oder ein Rucksack voller Steine.
Ich schaue rüber zu Richard, der jetzt mit dem Rücken zur offenen Ofenklappe dasteht und mich sehr ernst ansieht,
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