Das kalte Jahr: Roman (German Edition)
direkt in den Flur und zieht sich seine Stiefel an.
Wenn Richard an den Wochenenden nichts mit mir unternehmen möchte, gehe ich mit der Schneeschaufel vors Haus und versuche, den Weg zwischen Gartentor und Haustür frei zu halten. Es ist kaum Platz im Garten, um noch mehr Schnee aufzuschippen. Ich mache mir oft Sorgen, dass wir irgendwann nicht mehr aus unseren Erdgeschossfenstern hinausschauen können. Unser Garten besteht aus einer unebenen weißen Landschaft von unbekannter Tiefe, Richard könnte schon komplett darin versinken.
Wenn er das Kratzen der Schaufel auf dem eisverkrusteten Fußweg hört, kommt er oft runter, beherzt und ein bisschen empört, ich glaube, er würde das Schneeräumen gerne als seine Aufgabe verstanden wissen. Die Schaufel ist aber viel zu groß für seine kurzen Arme und vor allem zu schwer, wenn sie vorn mit Schnee beladen ist. Er kratzt dann das Blatt ein paar Mal quer über den Boden, und dann geht er wieder rein, und um seine Leistung anzuerkennen, warte ich besser, bis er die Tür hinter sich geschlossen hat, bevor ich weiterarbeite.
An diesem Samstagmorgen aber gehen wir gemeinsam raus in den trüben Tag, immerhin den Tag, denke ich, und laufen vorsichtig über den ungeräumten Weg vor zur Straße und an der Straße nach rechts und bis an ihr Ende, über die Hauptstraße und bis zur Promenade. Richard trägt seine marineblaue Mütze auf dem Kopf und Fausthandschuhe, und er schlenkert mit den Armen und hüpft mit beiden Beinen voran in die Schneeberge zwischen den geparkten Autos.
Er will am Hafenbecken nicht wieder raus auf das kleine Stück Seebrücke und nicht zum Wachturm, er will nicht über den Strand laufen und auch nicht ausprobieren, wie weit man schon aufs Meer hinausgehen kann, ohne einzubrechen.
Wir gehen, ohne rechte Absicht oder vorher von mir gefasstem Plan, bis an das Ende der Promenade, den Fußweg zur Hauptstraße, ein Stück an ihr entlang und schließlich auf der anderen Seite ins Gereute, in die Straße von Willy Helbig. Ich glaube nicht, dass ich davor schon einmal mit Richard diesen Weg gegangen bin.
Und weil mir alles sehr einfach vorgekommen ist auf dem Weg, weil Richard weder quenglig noch abwesend auf mich gewirkt hat, die ganze Zeit lang nicht, zeige ich ihm die Gebäude am Rand der Straße, das Lager und die Garage, die Einfahrt, ich deute auf das Haupthaus und erzähle, dass ich weiß, wie es darin aussieht, ich war schon mal da drin, sage ich, als ich vielleicht so alt war wie du, und es gibt dort diese Werkstatt, von der ich dir erzählt habe, mit reichlich Holz und dem ganzen entsprechenden Werkzeug: Stemmeisen, Hirnholz- und Schrupphobel, Fuchsschwänze, Laub- und Bauchsägen, dann geht mir aber die Lust an der Aufzählung aus, und ich zeige in den Garten, in dem man bei Tageslicht noch einige von den alten Maschinen, den Gestellen und Fässern erkennen kann, und weil es ja noch gar nicht spät ist, weil man jetzt noch klingeln könnte und sich sehenlassen nach langer Zeit, fasse ich Mut und frage Richard, ob er nicht auch Lust hätte, den Mann im Haus zu besuchen.
Richard zuckt mit den Schultern, nickt, und geht voran in die Einfahrt, durch den Schnee und auf den Garten zu.
Im Schnee auf dem Grundstück sind tiefe Fußspuren zu erkennen, verschiedene Routen, die wohl von Helbig zu seiner Haustür und zur Straße genommen wurden, einige sind zur Hälfte vollgeschneit, manche fast vollständig. Ich sehe Richard vor mir und wie er versucht, nur auf Helbigs Fußabdrücke zu treten. Die Abstände dazwischen sind aber viel zu groß für ihn.
Einmal fällt er beim Versuch, in einen Abdruck zu springen, auf seine Knie in den Schnee, und ich sehe das flache Dach auf dem Haus meiner Eltern vor mir und ich kann nicht anders und denke: recht so.
Die Fenster im Haupthaus sind fast blind vor Staub, beim Näherkommen ist aber schon ein schwaches, gelbliches Licht im Innern erkennbar, und ich meine auch schon Geräusche der Holzarbeit zu hören, das Schnarchen einer Säge und das helle Poltern eines abgeschnittenen Lattenstücks auf dem Fußboden.
Ich ziehe Richard an meine Seite, als wir auf den Stufen vor der Haustür stehen, eher unbewusst, ohne rechte Absicht und bekomme dafür einen sehr skeptischen Blick von ihm.
Ich drücke auf die Klingel, ein Schrillen innen, das ist wirklich ein sehr schönes altes Haus, denke ich noch, und ich meine zu erkennen, dass Richard das auch so sieht.
Helbig öffnet uns die Tür und ist etwas faltiger geworden in
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