Das kalte Jahr: Roman (German Edition)
die Geschichte vorbei ist und eigentlich auch ein guter Zeitpunkt, um den Fernseher auszuprobieren. Also stehe ich wieder auf, und weil niemand etwas sagt, der alte Löwe eh nicht, drücke ich auf den Knopf vorne am Gerät, und das Bild erscheint, meine Aufnahme vom Vortag, eine Gazelle ist zu sehen, die aufmerksam in die Steppe hineinhorcht nach einem gefährlichen Geräusch. Wir sehen uns gemeinsam die Luftaufnahme einer galoppierenden Wasserbüffelherde an und den konzentrierten Putt eines Profigolfers auf kurzgeschnittenem Rasen, und dann finde ich, dass es eine gute Gelegenheit wäre, sich zu verabschieden und sage, dass ich jetzt nach Hause gehen möchte und der alte Löwe, wahrscheinlich weil er merkt, dass es konsequenzlos bleibt und weil der Fernseher jetzt wieder läuft, sagt, auf eine leere, eingeübt kumpelhafte Art: Nach Hause? Aber da kennt man dich doch schon.
Im Haus meiner Eltern hänge ich den Mantel an die Garderobe und ziehe mir die Schuhe aus, schaue kurz ins Wohnzimmer, das wie meistens beheizt ist, schummrig beleuchtet und ohne Richard und gehe dann die Stufen hoch in den ersten Stock, zur Tür in mein altes Kinderzimmer, Richards Zimmer, und klopfe an.
Für eine Weile höre ich wieder nur Rascheln und Rutschen, auch ein knacksendes Geräusch ist zu hören und danach gleich ein Unmutslaut, ein sehr heller, der wohl aus Richards Nase kommt.
Er öffnet mir die Tür, schaut mich etwas verknittert an, und ich sage ihm, ich würde sehr gerne einmal im Regal neben dem Bett nach einem Jahrbuch meiner alten Schule suchen, weil ich mir ein Klassenfoto anschauen möchte. Wie zur Rechtfertigung erzähle ich ihm dann die ganze Geschichte von der jungen Frau und dem müden Grunzer, von ihrer Wohnung und ihren Geräten und in überflüssiger Genauigkeit auch noch die Geschichte von dem Ereignis auf der Straße mit der heruntergefallenen Kiste, was sich Richard alles anhört – das Gesicht zwischen Tür und Rahmen eingeklemmt lässt er mich erzählen, wobei ich kalte Füße kriege auf dem unbeheizten Flurboden und etwas übellaunig werde.
Als ich fertig bin, sage ich: Und deshalb würde ich gerne einmal nachschauen, ob ich ihr Gesicht in einem der Jahrbücher wiederfinde, ihren Namen, verstehst du, und Richard erzählt mir, er habe heute Nachmittag die Luke zum Dach aufgemacht, sei hochgeklettert, ganz raus, sagt er, und dann sei er von der Luke bis zum Rand gelaufen, bis ganz an die Kante und dann wieder zurück, wobei er, und er streckt ein Bein aus dem Türspalt, um mir zu zeigen wie, genau wieder in seine alten Fußspuren hineingetreten ist. Damit du nicht sehen kannst, dass ich wieder zurückgegangen bin, sagt er, und dann sei er unten aus der Haustür rausgegangen und habe sich neben die Stufen auf den Boden gelegt wie aufgeschlagen. Es ist mir aber zu kalt geworden, sagt er, weil du nicht gekommen bist. Und ich habe mich auch ein bisschen geschämt.
Als Richard fertig erzählt hat, zieht er den Kopf zurück und drückt die Tür ins Schloss. Ich schaue den Gang runter bis zum Fenster, bis zur Luke aufs Dach und kann mir alles gleich sehr gut vorstellen. Auch den vorm Haus liegenden Richard.
Und trotzdem er mir ja nur davon erzählt hat, fand ich: Die ganze Grausamkeit darin blieb vollständig erhalten.
Ein kleiner Mann mit einem übertrieben großen Schnurrbart springt über den Zaun einer Pferdekoppel. Er hält in jeder Hand einen Revolver, sieht sich nervös um. Hinter ihm, hinter einem Baum hervor, lugt das Böse und lächelt. Siegessicher.
Ein kleines Krebstier tippelt über den Strand. Es findet eine Muschel und schlüpft hinein. Das neue Haus nötigt dem Krebstier ein anderes Gehen auf. Auch die Fährte im Sand ist jetzt eine ganz andere.
Entgegen den Anweisungen, die ich von Letterau erhalten habe, erzähle ich Richard, habe ich heute Mittag beim Aufnehmen gar nicht umgeschaltet.
Ich habe den Fernseher angemacht, und auf dem Bildschirm ist ein Schloss erschienen, von tiefen Gräben umgeben, im Dämmerlicht, flackernd und unscharf, kleine weiße und schwarze Würmchen krümmten sich und zuckten über das Bild, erst dachte ich schon, es ist halt wieder ein sehr schlechtes Signal, bis mir dann aufgefallen ist, dass es einfach ein sehr alter Film war. Der Film war so alt, erzähle ich Richard, dass zwischen den Szenen immer Schrifttafeln eingeblendet wurden, auf denen man die Dialoge nachlesen konnte. Richard macht gleich ein deutliches Wasistdennjetztlos-Gesicht, ich weiß aber nicht, ob
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