Das Karpaten-Projekt
Schreibtisch gehockt hatte, musste sie an die Luft. In den Wald, den
sie so liebte, auch weil er im August noch Schatten spendete. Und nun das hier!
Tage, Wochen, Monate, vielleicht gar Jahre. Ein Abgrund tat sich auf. Die Tiefe
saugte sie an wie einen Menschen mit Höhenangst. Sie versuchte, dem schwarzen
Loch zu widerstehen, und stürzte doch hinein. Ein Weinkrampf überkam Katharina.
Sie warf sich auf den Bauch und drückte den Kopf ins Kissen. Die anderen Frauen
sollten nicht merken, wie elend ihr war. Mit zuckenden Schultern lag sie da und
heulte Rotz und Wasser. Das Bett wackelte unter ihr, aber niemand störte sich
daran. Keine Hand, die sie hielt, kein Wort, das sie tröstete. Unter so vielen
Frauen war Katharina in ihrem Elend allein. »Scheiße«, flüsterte sie in ihr
Kissen, »so eine gottverdammte Scheiße. Warum muss ausgerechnet mir das
passieren?«
Es gab keine Antwort auf solche Fragen, aber das Fluchen
erleichterte sie ein wenig. Langsam ließ das Heulen nach. Katharina drehte den
Kopf zur Seite, um besser atmen zu können. Die Luft tat ihr gut, auch wenn sie
nach Schweiß und Pipi roch. Mit tiefen Atemzügen versuchte sie, ihre Panik zu besiegen.
Sie atmete tief in den Bauch, hielt die Luft an und ließ den Mulm dann zur Nase
hinaus. Bis zur Neige leerte sie die Lunge, um sie im nächsten Augenblick
wieder vollzupumpen. Langsam gewann sie die Gewalt über sich zurück. So ruhig
wie möglich dachte sie über ihre Lage nach.
Sie wollten ihr den Mord an Ion Hulanu anhängen, oder
wenigstens eine Mittäterschaft. Der Typ, der die Bärenfütterung vergällt hatte,
lief immer noch frei herum. Weil sie ihn nicht zu fassen kriegten, hatte die
Polizei sie festgenommen. Morgens um fünf standen sie vor ihrer Wohnungstür,
mit einem Durchsuchungsbefehl in der Hand. Drei Bullen stellten ihre Bleibe in
Ra c a d a u auf den Kopf. Gesagt hatten sie es nicht, aber die Blauen
waren offensich tlich auf der Suche nach der Tatwaffe. Von einer Büchse
im Kaliber 8x57 hörte Katharina sie im Nebenzimmer leise reden. Natürlich
hatten sie keine Waffe bei ihr gefunden. Alle Aktenordner und Mappen waren
trotzdem konfisziert worden, und ihr Computer auch.
Beim Verhör im Polizeipräsidium kamen die Kriminalen
immer wieder auf den Mann in Tarnkleidung zurück. Sie hielten ihr das unscharfe
Foto vor die Nase wie Hulanu beim Meeting im Rathaus. »Kennen Sie diesen Mann, doamna Orend? Es ist besser für Sie, wenn wir ihn schnell finden. Wo
waren Sie in der Nacht von Mittwoch auf Donnerstag? War jemand bei Ihnen? Nein?
Eine so hübsche junge Frau schläft nachts sicher nicht allein. Doch? Das ist
schlecht für Sie, doppelt schlecht. Sie haben nicht nur keinen Mann, doamna Orend, Sie haben auch kein Alibi.«
In diesem Stil redeten die Bullen auf sie ein.
Stundenlang in wechselnder Besetzung. Mal barsch und brutal, mal
schmeichlerisch und anbiedernd. Katharina antwortete immer dasselbe: »Ich kenne
diesen Mann nicht. Ich habe in jener Nacht allein in meinem Bett geschlafen.«
Punkt, aus.
»Aber Sie hassten Ion Hulanu. Sie haben ihn am Tag vor
der Tat vor Zeugen übel beschimpft, doamna Orend. Unser comisar sef hat selbst mit am Tisch geses sen. Wollen Sie das
bestreiten? Wollen Sie behaupten, unser Chef lügt?«
»Ich habe den Forstamtsleiter einen Genossen genannt. Ist
das neuerdings ein Schimpfwort? War er nicht in der Partei? Noch vor sechzehn
Jahren hätten auch Sie darauf bestanden, als Genosse anredet zu werden, subinspector Eminescu.«
»Werden Sie nicht unverschämt, Orend. Von Abkömmlingen
deutscher Hitleristen lasse ich mich nicht beleidigen. Wir Rumänen sind ein
altes, stolzes Volk. Und wir sind großzügig. Wir geben Ihnen Gelegenheit, über
die ganze Sache in Ruhe nachzudenken. Falls Ihnen etwas einfällt, das uns interessieren
könnte, sagen Sie es der Gefängnisleitung. Wir kommen Sie dann besuchen, doamna Orend.«
Sie hatten sie in den Frauenknast von Targsor gebracht.
Die Direktorin persönlich nahm sie in Empfang, eine Frau mit rosa Kostüm und
rosa Lippenstift. »Ein Viertel unserer Häftlinge sind Mörderinnen«, sagte sie, »Sie
sind hier also unter Ihresgleichen.«
Katharina blieb die Spucke weg. »Ich bin keine Mörderin!«
»Das sagen viele. Tatsächlich sind sie oft mehr Opfer als
Täter. Die meisten haben ihren Mann umgebracht, nachdem sie jahrelang von ihm
im Suff verprügelt worden sind.« Die Direktorin blätterte kurz in der Mappe,
auf deren Umschlag Katharinas Name prangte.
Weitere Kostenlose Bücher