Das Karpaten-Projekt
als er rannte.
Schreiber fuhr weiter. Er wusste nicht, was ihn vor dem
Pass noch erwartete, fand es aber schnell heraus: Spitzkehren, die ihn
schwindeln ließen, sobald er den Blick von der Straßenmitte wandte. Hier oben
gab es keine Weiden mehr, nur Fels und Moos und Flechten. Bis auf zweitausendfünfhundert
Meter stieg das Fogarascher Gebirge an. Hannes sah den Eingang der Röhre, die
den Kamm untertunnelte. Ein Schild wies nach links zur Cabana Balea Lac. Er wartete, bis der Sattelzug aus dem Tunnel an
ihm vorbeigekrochen war, und bog dann ab. Vorbei an einem rostigen
Müllcontainer und dem ausgebrannten Rohbau eines Hotels schlängelte sich das
Asphaltband in ein Kar. Den Talkessel unter den Gipfeln füllte stahlblaues
Wasser. Wie die Ränge eines Amphitheaters stieg der Gebirgskamm dahinter auf.
Er schirmte den Balea Lac nach Süden
ab. An schattigen Stellen der Nordwand hatten kleine Schneefelder übersommert.
Wolkenfahnen flatterten an den Bergspitzen, veränderten ihre Form wie Rauch im
Wind.
Schreiber parkte sein Auto neben einem Imbisswagen. Unsere Hähnchen schmecken immer, stand
darauf. Die Karre stammte aus Burladingen, der Stempel auf dem Nummernschild
war abgekratzt.
Schreiber steckte sich eine Zigarette an und betrachtete
die Cabana genauer. Für eine Berghütte war sie ganz schön groß. Erd- und
Untergeschoss bestanden aus dem grauen Fels, der hier anstand. Ober- und Dachgeschoss
waren aus Holz. Die ganze Bude war entweder neu gebaut oder vor Kurzem völlig
renoviert worden. Eine Holzterrasse ragte in den Bergsee.
Hannes irrte durch die verwinkelte Gaststube, ehe er die
Terrassentür fand. Er setzte sich an einen der Tische unter den grünen
Sonnenschirmen von Gösser -Bier und
wartete auf die Bedienung. Er war der einzige Gast der Cabana Balea Lac. Das Personal hatte sein Eintreffen anscheinend
nicht bemerkt.
Nach einer Viertelstunde ging er rein. Hinter dem Tresen
stand eine junge Frau mit weißer Bluse. Eine grüne Schürze wölbte sich über
ihrem Bauch. Die Kellnerin war schwanger. Schreiber bestellte Bier und Fanta
und ging zurück auf die Terrasse. Drinnen hatte jemand Musik angeworfen. Candle in the wind, drang aus den Boxen
auf der Fensterbank. Die Akustik im Kar war hervorragend. Wenn es hier irgendwo
Murmeltiere gab, würde Elton John in ihren Bauen zu hören sein.
Die Kellnerin brachte die Getränke. Er mischte sich ein
Radler. Beim Trinken erinnerte er sich an den Tag mit Katharina, der seiner
Recherche einen anderen Dreh gegeben hatte. War er damals in Ra c a d a u
aus dem Ruder gelaufen, wie Bartelmus meinte? Schreiber glaubte, etwas anderes
war g eschehen: Sein Zynismus war ihm abhandengekommen, die
Berufskrankheit des altgedienten Journalisten, der hinter viele Fassaden
geschaut und nichts als Abgründe entdeckt hatte. In seiner Beziehung zu der
Biologin war für Zynismus kein Platz. Sie hatte ihm das Leben gerettet, er
stand in ihrer Schuld. So einfach war das. Notfalls nähme er den Verlust seines
Jobs hin, um ihr zu helfen.
Liebte er diese Frau? Schwer zu sagen. Was bedeutete
Liebe einem Mann, der auf die sechzig zuging, eine gescheiterte Ehe und ein
paar verunglückte Beziehungen hinter sich hatte? Just a four-letter word, wie Dylan gedichtet hatte? Love, nur ein Schimpfwort mit vier Buchstaben
wie fuck und piss? Sicher nicht.
Beim Schreiben fahndete Hannes stets nach dem einen Wort,
das ein Gefühl, eine Sache oder ein Tun haargenau traf. Wenn er es nach langem
Versuchen und Verwerfen gefunden hatte, war er stolz und froh. Vielleicht
sollte er bei dieser Frau auf Worte verzichten. Ihre Beziehung war kein Text,
der poliert werden musste, bis er glänzte. Er nahm sich vor, seinem Gefühl für
Katharina keinen Namen zu geben.
Schreiber begrübelte noch das Problem, als Ovidiu Vandra
auftauchte. Er trug wieder seine Kakiklamotten, nur die über dem Knie endende
Hose war neu im Sortiment.
»Hi, Hannes«, grüßte er, gab ihm die Hand und ließ sich
auf den Stuhl fallen. »Sorry, I’m late.«
Schreiber sah auf die Uhr. Es war tatsächlich schon Viertel
nach acht. Er fragte den Biologen, was er im Hochgebirge treibe.
»Gämsen zählen«, sagte Vandra. Sie hätten eine Menge
Probleme mit Wilderern hier oben. Der Bestand sei dramatisch gesunken. Die Zeiten,
in denen ein Siebenbürger Sachse in den Fogarascher Bergen den
Weltrekordgamsbock erlegt habe, seien lange vorbei. »Siebzig Jahre, um genau zu
sein.« Zuerst habe Ceausescu die Bestände
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