Das Karpatenschloß
Wälder«. Im Norden
und Westen wird es von Ungarn begrenzt; im Süden berührt
es die Walachei und im Osten die Moldau. Bei einer Fläche
von 60.000 Quadratkilometern oder 6 Millionen Hektar –
das ist fast der zehnte Teil der österreichisch-ungarischen
Monarchie – erscheint es als eine Art Schweiz, ist aber, ob-
wohl um die Hälfte größer als der helvetische Staatenbund,
doch nicht volkreicher als jene. Mit seinen dem Ackerbau
erschlossenen Hochebenen, den üppigen Weideflächen, den
nach allen Richtungen hin streichenden Tälern und seinen
— 7 —
schroff aufstrebenden Felsriesen, wird Transsilvanien, das
die vielen plutonischen Höhenzüge der Karpaten fast über-
all streifig bedecken, von zahlreichen Wasserläufen durch-
zogen, von Zuflüssen der Theiss und der stolzen Donau, in
der das sogenannte Eiserne Tor wenige geographische Mei-
len weiter im Süden den Abfall der Balkankette zwischen der
Grenze Ungarns und des osmanischen Reichs verschließt.
So erscheint das Bild des alten Daciens, das Trajan im
ersten Jahrhundert der christlichen Zeitrechnung eroberte.
Die Unabhängigheit, der es sich unter Johann Zapoly und
dessen Nachfolgern bis zum Jahr 1699 erfreute, hatte ein
Ende mit Leopold I., der das Gebiet dem der österreichi-
schen Kronländer einverleibte. Trotz veränderter politi-
scher Verhältnisse ist es aber stets der Wohnsitz verschie-
dener Rassen geblieben, die hier miteinander in Berührung
stehen, doch nicht verschmelzen, die Heimat von Walachen
oder Rumänen, von Ungarn, Zigeunern, Szeklern moldau-
ischer Abstammung, und auch von Sachsen, die durch Zeit
und Umstände sich zugunsten der transsilvanischen Einheit
doch schließlich »magyarisieren« dürften, so hartnäckig sie
bisher auch ihre Stammeseigentümlichkeit behaupteten.
Welchem Typus der Schäfer Frik angehörte und ob er
etwa ein entarteter Nachkomme der alten Dacier war, das
hätte man angesichts seines wirren Haarschopfs, des nicht
gerade sauberen Gesichts, des struppigen Barts, der dichten,
wie aus rötlichen Borsten gebildeten Augenbrauen und der
zwischen grün und blau schillernden, stechenden, doch am
Hornhautrand schon den sogenannten Greisenbogen zei-
— 8 —
genden Augen des Mannes nur schwer bestimmen können.
Daß er bereits 65 Jahre zählte, konnte man schon leichter
sehen. Dabei war er groß, sehnig und hielt sich straff unter
dem weichen Filzhut, der allerdings weniger Haare zeigte
als seine halb entblößte Brust – kurz, ein Maler würde ihn,
wenn er so, auf den langen Stab mit Krähenschnabelgriff
gestützt, unbeweglich wie ein Felsen dastand, gewiß gern als
Modell benutzt haben.
Als die Sonnenstrahlen sich durch die Berglücke im Wes-
ten Bahn brachen, drehte Frik sich um; dann formte er aus
der halb eingeschlagenen Hand eine Art Fernrohr – so als
hätte er sie als Sprachrohr verwendet, wenn er sich weithin
vernehmbar machen wollte – und blickte aufmerksam in je-
ner Richtung hinaus. Am hellen Hintergrund des Horizonts
erhoben sich in einer Entfernung von 1 Meile und deshalb
stark verkleinert die Umrisse einer Burg. Dieser altertüm-
liche Schloßbau nahm auf einem einzeln stehenden Seiten-
gipfel des Bergs Vulcan den mittleren Teil eines Hochpla-
teaus ein, das den Namen des Plateaus von Orgall führte.
Bei dem schimmernden Licht hoben sich die Umrisse des
Ganzen deutlich und mit derselben Schärfe wie stereosko-
pische Bilder vom Himmel ab. Nichtsdestoweniger mußte
das Auge des Hirten mit seltener Sehschärfe ausgestattet
sein, um irgendeine Einzelheit der entfernten Gegenstände
unterscheiden zu können.
Plötzlich rief er, den Kopf in die Höhe werfend: »Altes
Schloß! Altes Schloß! Stütz du dich nur immer auf deine
— 9 —
Grundfeste! Noch 3 Jahre, und es ist zu Ende mit dir, denn
deine Buche hat nur noch drei Äste!«
Die betreffende, nah am Rand einer der Bastionen der
Burg wurzelnde Buche erschien am Himmelsgrund wie ein
feiner Scherenschnitt, und in dieser Entfernung würde sie
wohl schwerlich für jemand anders als den Schäfer Frik
sichtbar gewesen sein. Die Deutung jener geheimnisvollen
Worte, die mit einer das Bergschloß betreffenden Sage in
Beziehung stand, wird an passender Stelle folgen.
»Ja!« wiederholte der Mann, »nur drei Äste! Gestern
waren es noch vier; der vierte ist aber im Lauf der letzten
Nacht abgefallen ... jetzt steht nur noch ein Stumpf des stol-
zen Baums da. Ich zähle nur noch
Weitere Kostenlose Bücher