Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Kartengeheimnis

Das Kartengeheimnis

Titel: Das Kartengeheimnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jostein Gaarder
Vom Netzwerk:
Kranz aus purpurroten Zwergrosen. Über diesen Büschen summten Bienen, die fast so groß waren wie zu Hause die Spatzen. Ihre Flügel glitzerten wie Glas in der scharfen Nachmittagssonne. Ich spürte den starken Duft von Honig.
    Ich ging weiter hinunter ins Tal. Und hier entdeckte ich die Millucken...
    Die Bienen und Schmetterlinge auf der Insel hatten mich schon erstaunt, aber obwohl sie schöner und größer waren als ihre Verwandtschaft in Deutschland, waren sie doch immer noch Bienen und Schmetterlinge. Und ebenso war es mit den Fröschen und Kriechtieren gewesen. Nun aber – nun erblickte ich große weiße Tiere, die so anders waren als alles, was ich je zuvor gesehen oder wovon ich je gehört hatte, daß ich mir ungläubig die Augen rieb.
    Es war eine Herde von zwölf bis fünfzehn Tieren. Sie waren groß wie Pferde und Kühe, besaßen aber eine dicke, weißliche Haut, die an Schweinehaut erinnerte – und alle hatten sechs Beine. Ihre Köpfe waren kleiner und spitzer als die von Pferden und Kühen. Und ab und zu reckten sie die Hälse zum Himmel und riefen: „Brasch, brasch!”
    Ich hatte keine Angst: Die sechsbeinigen Tiere sahen genauso dumm und freundlich aus wie die Kühe in Deutschland. Sie machten mir nur klar, daß ich in ein Land geraten war, das auf keiner Karte verzeichnet stand. Ich fand das genauso unheimlich, als ob ich einem Menschen ohne Gesicht begegnet wäre.
    Die winzigen Buchstaben in dem Brötchenbuch zu lesen war schwieriger und dauerte länger als das Lesen in einem normal großen Buch. Jeden einzelnen kleinen Buchstaben mußte ich mir aus dem Gewimmel auf den Seiten heraussuchen und mit den anderen Buchstaben verbinden. Bis ich die Stelle mit den sechsbeinigen Tieren auf der magischen Insel gelesen hatte, war es schon später Nachmittag; Vater fuhr gerade von der großen Autobahn herunter.
    »Wir essen in Verona«, sagte er.
    »Anorev«, sagte ich. Ich hatte schon das Schild gelesen.
    Auf dem Weg in die Stadt erzählte mein Vater mir die äußerst traurige Geschichte von Romeo und Julia, die nicht zusammenkommen durften, weil sie zwei Familien angehörten, die sich unablässig befehdeten. Das junge Liebespaar, das seine verbotene Liebe mit dem Leben bezahlen mußte, hatte vor vielen Jahrhunderten in Verona gelebt.
    »Es war ein bißchen wie bei Großmutter und Großvater«, sagte ich, und Vater lachte, denn auf diesen Gedanken war er noch nie gekommen.
    Wir aßen Antipasti und Pizza in einem großen Straßenrestaurant. Ehe wir weiterfuhren, liefen wir durch die Straßen, und an einem Andenkenkiosk kaufte Vater sich ein Kartenspiel mit zweiundfünfzig nackten Frauen. Auch diesmal sicherte er sich schnell den Joker, aber er behielt auch die restlichen Karten. Ich glaube, die Sache war ihm ein bißchen peinlich, denn die Frauen im Kartenspiel waren noch leichter bekleidet, als er erwartet hatte; jedenfalls ließ er die Karten blitzartig in seiner Brusttasche verschwinden.
    »Eigentlich unglaublich, daß es so viele Frauen gibt«, sagte er, fast wie zu sich selber. Irgendwas mußte er ja sagen. Aber das war natürlich ein hoffnungslos blöder Spruch, wo doch die halbe Weltbevölkerung aus Frauen besteht. Was er meinte, war, daß in dem Kartenspiel ganz schön viele nackte Frauen waren, denn von denen sieht man ja doch selten so viele auf einmal. Wenn er das meinte, war ich jedenfalls ganz seiner Ansicht: Ich fand es ein bißchen übertrieben, Bilder von zweiundfünfzig nackten Frauen zu einem Kartenspiel zu versammeln. Und eine blöde Idee war es sowieso, schließlich kann man nicht mit Karten spielen, bei denen es nur Damen gibt. Zwar stand in der oberen linken Ecke Pik König, Kreuz Vier und so weiter wie sonst auch; aber wenn man mit den Karten spielte, würde man sicher nur die Damen anstarren, statt sich aufs Spiel zu konzentrieren. Der einzige Mann in dem Kartenspiel war der Joker. Er war als griechische oder römische Statue mit Bockshorn dargestellt und ebenfalls nackt, aber das sind schließlich die meisten alten Statuen.
    Als wir uns wieder ins Auto setzten, dachte ich noch immer an das seltsame Kartenspiel und sagte: »Hast du dir nie überlegt, dir eine neue Frau zu suchen, statt dein halbes Leben damit zuzubringen, die zu suchen, die sich noch selber sucht?«
    Erst lachte Vater heiser, dann sagte er: »Stimmt schon, das ist ein bißchen mysteriös. Auf diesem Planeten leben immerhin fünf Milliarden Menschen. Aber dann verliebt man sich in einen bestimmten, und den will man

Weitere Kostenlose Bücher