Das Kartengeheimnis
und ich allerdings einige kleine Meinungsverschiedenheiten.
Mein Vater wuchs also als Deutschenkind auf. Die Erwachsenen in Arendal hatten zwar aufgehört, »Deutschendirnen« zu verprügeln, aber ihre Kinder schikanierten die Deutschenkinder weiter. Kinder äffen die Gemeinheiten der Erwachsenen nämlich nur zu gern nach. Das bedeutet, daß mein Vater eine harte Kindheit hatte. Und mit siebzehn hielt er es nicht mehr aus. Obwohl er Arendal so liebte wie alle anderen, fuhr er als Schiffsjunge zur See. Erst sieben Jahre später kam er nach Arendal zurück, da hatte er in Kristiansand schon Mama kennengelernt. Sie zogen in ein altes Haus auf Hisøy; dort wurde ich am 29. Februar 1972 geboren. So gesehen habe natürlich auch ich meinen Teil der Schuld für die Ereignisse auf Froland zu tragen. Und das nennen wir Erbsünde.
Nach einer Kindheit als Deutschenkind und vielen Jahren auf See hatte mein Vater schon immer eine Schwäche für geistige Getränke. Ein bißchen zu sehr, finde ich. Er behauptete zu trinken, um zu vergessen, aber genau in diesem Punkt irrte er sich. Denn gerade wenn er trank, fing er an, sich über meine Großeltern und sein Leben als Deutschenkind zu verbreiten. Ab und zu weinte er dann auch. Ich glaube, mit Hilfe der geistigen Getränke erinnerte er sich nur um so besser.
Nachdem er mir auf der Autobahn bei Hamburg noch einmal seine Lebensgeschichte erzählt hatte, sagte er: »Und dann ist Mama verschwunden. Als du in den Kindergarten kamst, bekam sie ihre erste Stelle als Tanzlehrerin. Später fing sie an, als Model zu arbeiten. Sie mußte öfter nach Oslo und zweimal auch nach Stockholm, und eines Tages kam sie nicht wieder nach Hause. Wir bekamen nur einen Brief, in dem stand, daß sie einen Job im Ausland hätte und nicht wüßte, wann sie zurückkommt. So was sagen Leute, die ein oder zwei Wochen wegbleiben wollen. Und jetzt ist sie schon über acht Jahre weg...«
Auch das hatte ich schon oft gehört, aber diesmal fügte Vater hinzu: »In meiner Familie hat immer irgendwer gefehlt, Hans-Thomas. Immer hat irgendwer sich verirrt. Ich glaube, das ist ein Familienfluch.«
Als er das mit dem Fluch sagte, bekam ich zuerst einen leichten Schrecken. Ich dachte darüber nach, als wir wieder im Auto saßen, und kam zu dem Schluß, daß er recht hatte.
Zusammen fehlten meinem Vater und mir ein Vater und ein Großvater, eine Frau und eine Mutter. Und mein Vater muß noch an etwas anderes gedacht haben. Als Großmutter noch klein war, wurde ihr Vater beim Holzfällen von einem umstürzenden Baum getroffen und starb. Auch sie ist also ohne richtigen Vater aufgewachsen. Vielleicht bekam sie deshalb ein Kind von einem deutschen Soldaten, der zum Sterben in den Krieg geschickt wurde. Und vielleicht heiratete dieses Kind deshalb eine Frau, die nach Athen ging, um sich selber zu finden.
PIK ZWEI
... daß Gott im Himmel sitzt und darüber lacht, daß die Menschen nicht an ihn glauben...
An der Schweizer Grenze hielten wir an einer geheimnisvollen Tankstelle mit nur einer Zapfsäule. Aus einem grünen Haus kam ein Mann, der so klein war, daß er ein Zwerg oder so etwas sein mußte. Vater breitete eine große Autokarte aus und erkundigte sich nach dem besten Weg durch die Alpen nach Venedig.
Der Zwerg antwortete mit piepsiger Stimme und zeigte auf eine Straße. Er konnte nur Deutsch, aber Vater übersetzte für mich: Der kleine Mann empfahl uns, in einem kleinen Ort namens Dorf zu übernachten.
Während er sprach, starrte er mich die ganze Zeit an, als ob er in seinem Leben noch kein Kind gesehen hätte. Ich glaube, er mochte mich, weil wir genau gleich groß waren. Als wir wieder losfahren wollten, gab er mir eine kleine Lupe in einem grünen Etui.
»Nimm die«, piepste er. (Mein Vater übersetzte.) »Ich habe sie vor langer Zeit aus einem alten Stück Glas geschliffen, das ich im Magen eines waidwunden Rehs gefunden habe. Du wirst in Dorf Verwendung dafür finden, o ja, das sage ich dir, Junge. Denn eines steht fest: Sowie ich dich gesehen habe, ging mir auf, daß du auf deiner Reise Verwendung für eine kleine Lupe haben wirst.«
Ich fragte mich, ob Dorf womöglich so klein war, daß man es nur mit einer Lupe finden konnte. Aber ich gab dem Zwerg die Hand und bedankte mich, ehe ich mich wieder ins Auto setzte. Seine Hand war nicht nur kleiner als meine, sie war auch viel kälter.
Mein Vater kurbelte das Fenster herunter und winkte dem Zwerg, der den Abschiedsgruß mit beiden Ärmchen
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