Das Kartengeheimnis
erwiderte.
»Ihr kommt aus Arendal, nicht wahr?« rief er, als Vater den Motor anließ.
»Richtig«, antwortete Vater und fuhr los.
»Woher hat der gewußt, daß wir aus Arendal kommen?« fragte ich.
Vater musterte mich im Spiegel: »Hast du das nicht gesagt?«
»Nein.«
»Doch«, beharrte er. »Von mir weiß er’s jedenfalls nicht.«
Aber ich wußte, daß ich es nicht gesagt hatte, und wenn, dann hätte der Zwerg es nicht verstanden, schließlich konnte ich kein Wort Deutsch.
»Warum war der wohl so klein?« überlegte ich, als wir die Autobahn erreicht hatten.
»Das weißt du nicht?« fragte mein Vater. »Der Bursche ist so klein, weil er ein künstlicher Mensch ist. Ein jüdischer Zauberer hat ihn vor vielen Jahrhunderten gemacht.«
Mir war natürlich klar, daß das ein Witz sein sollte, trotzdem fragte ich: »Dann war er also mehrere Jahrhunderte alt?«
»Das weißt du auch nicht?« fragte Vater. »Künstliche Menschen altern nicht so wie wir. Das ist der einzige Vorteil, mit dem sie sich brüsten können, aber der fällt ganz schön ins Gewicht. Er bedeutet schließlich, daß sie nie sterben werden.«
Im Fahren nahm ich die Lupe und sah nach, ob mein Vater Läuse hatte. Er hatte keine, aber in seinem Nacken wuchsen einzelne häßliche Haare.
Nicht weit hinter der Schweizer Grenze sahen wir einen Wegweiser nach Dorf. Wir bogen in eine kleine Straße, die sich langsam den Berg hinaufwand. Es war eine öde Gegend, nur ein paar alte Holzvillen standen zwischen Bäumen auf den hohen Hügelkämmen verstreut.
Bald wurde es auch noch dunkel, und ich wäre fast eingeschlafen. Aber im letzten Moment fuhr ich hoch, weil Vater anhielt. »Zigarettenpause«, sagte er.
Wir stiegen aus und atmeten frische Alpenluft. Es war Nacht. Über uns hing der Sternenhimmel wie eine elektrische Decke mit Tausenden von winzigen Lampen, jede zu einem Tausendstel Watt. Vater ging zum Pinkeln an den Straßenrand. Als er zurückkam, zündete er sich eine Zigarette an, zeigte auf den Himmel und sagte: »Wir sind schon arge Winzlinge, mein Junge. Wir sind winzige Legofiguren, die versuchen, in einem alten Fiat von Arendal nach Athen zu gurken. Hö! Auf einer Erbse! Draußen – also außerhalb des Samenkorns, auf dem wir leben, Hans-Thomas –, da gibt es viele Milliarden von Galaxien. Jede einzelne von ihnen besteht aus einigen hundert Milliarden Sternen. Und Gott weiß, wie viele Planeten es gibt!«
Er streifte die Asche von seiner Zigarette und fuhr fort: »Ich glaube nicht, daß wir allein sind, mein Junge, nie und nimmer. Im Universum brodelt das Leben. Nur werden wir nie erfahren, ob wir allein sind. Die Galaxien sind wie einsame Inseln ohne jede Verbindung.«
Über meinen Vater ließe sich einiges sagen, aber ich habe es nie langweilig gefunden, mit ihm zu reden. Auf keinen Fall hätte er sich mit einem Leben als Maschinist zufriedengeben dürfen. Wenn es nach mir gegangen wäre, hätte er ein staatliches Gehalt als Philosoph bezogen. Er hatte selber einmal etwas Ähnliches gesagt. »Wir haben für alles mögliche Ministerien«, sagte er, »aber es gibt kein Ministerium für Philosophie. Sogar große Länder glauben, sie kämen ohne aus.«
Erblich belastet, wie ich war, versuchte ich mich an den philosophischen Gesprächen zu beteiligen, die Vater fast immer anfing, wenn er nicht über Mama sprach. Jetzt sagte ich: »Daß das Universum groß ist, muß nicht unbedingt bedeuten, daß unser Erdball eine Erbse ist.«
Er zuckte mit den Schultern, warf den Zigarettenstummel auf den Boden und steckte sich eine neue Zigarette an. Die Meinung anderer interessierte ihn im Grunde nicht besonders, wenn er über das Leben und die Sterne sprach. Dazu war er sich seiner eigenen Meinung viel zu sicher. Statt mir zu antworten, sagte er: »Woher, zum Kranich, kommen Leute wie wir, Hans-Thomas? Hast du dir das schon mal überlegt?«
Das hatte ich schon oft, aber weil ich nun mal wußte, daß ihn meine Antwort nicht interessierte, ließ ich ihn einfach weiterreden. Wir kannten uns schon so lange, mein Vater und ich, daß ich wußte, es war so am besten.
»Weißt du, was Großmutter einmal gesagt hat? Sie sagte, sie hätte in der Bibel gelesen, daß Gott im Himmel sitzt und darüber lacht, daß die Menschen nicht an ihn glauben.«
»Warum denn?« fragte ich. Fragen war immer einfacher als antworten.
»Okay«, fing Vater an. »Wenn es einen Gott gibt, der uns geschaffen hat, dann sind wir in seinen Augen gewissermaßen künstlich. Wir
Weitere Kostenlose Bücher