Das Kartengeheimnis
mich beruhigen. Aber ich stellte eine Bedingung, wenn nicht mehr über die Sache gesprochen werden sollte: Vater mußte mir versprechen, daß er, ehe wir in Patras an Land gingen, die Mannschaft befragte, ob sich ein Zwerg an Bord befand.
»Meinst du, wir philosophieren ein bißchen zuviel?« fragte er, während ich noch immer in regelmäßigen Abständen leise schluchzte.
Ich schüttelte den Kopf.
»Jetzt suchen wir erst mal Mama in Athen«, fuhr er fort. »Mit der Lösung der Rätsel des Lebens warten wir noch. Damit hat es sowieso keine Eile – das Projekt macht uns niemand streitig.«
Er blickte nachdenklich auf mich herab, dann sagte er: »Sich dafür zu interessieren, wer die Menschen sind und woher die Welt kommt, ist ein so ungeheuer seltenes Hobby, daß wir es ziemlich allein betreiben. Wir, die wir uns damit beschäftigen, wohnen so weit auseinander, daß wir uns nicht einmal die Mühe gemacht haben, unseren eigenen Verein zu gründen.«
Als ich aufhörte zu weinen, goß er einen winzigen Schluck Schnaps in ein Glas, nicht mehr als einen halben Zentimeter. Er mischte ihn mit Wasser und gab mir das Glas.
»Trink das, Hans-Thomas. Dann schläfst du heute nacht gut.«
Als Vater sich zum Schlafen bereit machte, zog ich den Joker aus der Tasche, den ich von der Amerikanerin geschnorrt hatte.
»Den schenk ich dir«, sagte ich.
Er nahm ihn in die Hand und musterte ihn ausgiebig. Ich glaube nicht, daß es ein sehr seltenes Exemplar war, aber es war nun mal der erste, den ich ihm besorgt hatte.
Zum Dank dafür zeigte er mir ein Kartenkunststück. Er mischte den Joker in ein Kartenspiel, das er aus seinem Koffer zog, dann legte er die Karten auf den Nachttisch. Im nächsten Moment fischte er denselben Joker aus der Luft.
Ich beobachtete alles genau und hätte schwören können, daß er den Joker zwischen die anderen Karten gesteckt hatte. Vielleicht hatte er ihn aus dem Ärmel geschüttelt. Aber wie war er dort hineingeraten?
Ich konnte nicht begreifen, wie etwas aus nichts entstehen konnte.
Mein Vater hielt sein Versprechen, sich bei der Mannschaft nach dem Zwerg zu erkundigen, aber man konnte ihm nur versichern, daß keine Zwerge an Bord gegangen waren. Blieb nur, was ich befürchtete: daß der Zwerg ein blinder Passagier war.
KREUZ BUBE
... wenn die Welt ein Zauberkunststück ist, dann muß es auch einen Zauberkünstler geben...
Wir hatten beschlossen, vor der Ankunft in Patras nicht mehr an Bord zu frühstücken. Wir stellten den Wecker auf sieben, eine Stunde bevor wir anlegen sollten, aber ich erwachte schon um sechs.
Als erstes fiel mein Blick auf die Lupe und das Brötchenbuch auf dem Nachttisch. Das Gesicht vor dem Fenster hatte mich so erschreckt, daß ich vergessen hatte, sie zu verstecken. Es war pures Glück, daß sie Vater nicht aufgefallen waren.
Er schlief noch immer, und mich ließ die Frage nicht los, was Frode wohl über die Zwerge auf der Insel erzählen würde. Ich beschloß weiterzulesen, bis Vater anfing, sich im Bett herumzuwälzen, wie er es vor dem Aufwachen immer tut.
Auf dem Schiff hatten wir unentwegt Karten gespielt; ich hatte immer Karten in der Brusttasche. Und ein französisches Kartenspiel war auch das einzige, was ich nach dem Schiffbruch gerettet hatte.
In meiner Einsamkeit legte ich in den ersten Jahren oft Patiencen. Die Karten waren meine einzigen Bilder auf der Insel. Ich legte nicht nur die Patiencen, die ich zu Hause und auf See gelernt hatte. Mit zweiundfünfzig verschiedenen Karten – und einem Meer von Zeit – kann man sich unbegrenzt viele Patiencen und Spiele ausdenken. Das sollte ich bald feststellen.
Und mit der Zeit fing ich an, den einzelnen Karten unterschiedliche Eigenschaften zuzuschreiben. Ich betrachtete sie als zweiundfünfzig Individuen aus vier verschiedenen Familien. Kreuz hatte eine braune Haut, einen robusten Körperbau und dicke Locken. Karo war dünner, leichter und graziöser mit einer fast weißen Haut und glatten, silbrig glänzenden Haaren. Dann waren da die Herzen – nun, die waren eben etwas herzlicher als die anderen. Sie hatten einen runden Körper, rosige Wangen und eine üppige hellblonde Mähne. Und da war Pik – ach herrje! Drahtiger Körper, blasse Haut, eine leicht strenge und steife Miene, stechende dunkle Augen und schwarze, strähnige Haare.
So sah ich die Figuren vor mir, wenn ich meine Patiencen legte. Es war, als befreite ich bei jeder Karte, die ich legte, einen verzauberten Geist aus seiner Flasche.
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