Das Kartengeheimnis
Einen Geist, ja – denn nicht nur das Aussehen der Figuren änderte sich von Familie zu Familie. Alle hatten dazu ihr charakteristisches Temperament: Kreuz hatte eine etwas trägere und steifere Persönlichkeit als die geradezu schwebenden, empfindlichen Karos. Die Herzen waren fröhlicher und munterer gestimmt als die mürrischen, auffahrenden Pik. Aber auch innerhalb jeder Familie gab es große Unterschiede. Alle Karos waren leicht verletzlich, aber vor allem Karo Drei brach oft in Tränen aus. Alle Pik waren ziemlich hitzig, aber der allergrößte Hitzkopf war Pik Zwei.
Auf diese Weise erschuf ich im Laufe der Jahre zweiundfünfzig unsichtbare Individuen, die gewissermaßen mit mir lebten. Insgesamt waren es sogar dreiundfünfzig solcher Individuen, denn auch der Joker sollte eine wichtige Rolle spielen.“
„Aber wie...“
„Ich weiß nicht, ob du dir vorstellen kannst, wie einsam ich mich fühlte. Es war hier so unendlich still. Immer wieder traf ich nur auf Tiere: Nachts weckten mich Eulen und Millucken, aber ich hatte niemanden, mit dem ich reden konnte. Schon einige Tage nachdem ich gestrandet war, begann ich, Selbstgespräche zu führen. Und nach zwei Monaten redete ich dann mit den Karten. Manchmal legte ich sie in einem großen Kreis aus und spielte, sie seien richtige Menschen aus Fleisch und Blut, wie ich. Oder ich drehte nur eine einzige Karte um – mit der ich dann lange Gespräche führte.
Nach und nach waren meine Karten so mitgenommen, daß sie sich aufzulösen begannen. Die Sonne hatte die Farben angegriffen, und ich konnte ein Bild fast nicht mehr vom anderen unterscheiden. Da legte ich die Überreste in ein Holzkistchen, das ich bis heute aufbewahrt habe. – Aber die Figuren lebten weiter in meinem Bewußtsein. Ich konnte in Gedanken Patiencen legen. Ich brauchte keine Karten mehr. Das ist so, als wenn man eines Tages plötzlich auch ohne Rechentafel rechnen kann. Denn sieben plus sechs ist dreizehn, auch wenn man es nicht an kleinen bunten Kugeln abzählt.
Ich sprach weiter mit meinen unsichtbaren Freunden, und bald schienen sie mir zu antworten – wenn auch nur in meinen Gedanken. Am deutlichsten war es, wenn ich schlief, denn in meinen Träumen war ich fast immer mit den Figuren aus meinen Karten zusammen. Wir waren wie eine kleine Gesellschaft. In meinen Träumen konnten die Figuren ganz von selber sprechen und handeln. Auf diese Weise waren meine Nächte immer etwas weniger einsam als die langen Tage. Die Karten lebten nachts ihre Persönlichkeit aus. Sie sprangen in meinem Bewußtsein umher wie richtige Könige und Königinnen und Menschen aus Fleisch und Blut.
Zu einigen Figuren entwickelte ich ein vertraulicheres Verhältnis als zu anderen. Einer, mit dem ich in der ersten Zeit immer wieder lange Gespräche führte, war der Kreuz Bube. Auch mit Pik Zehn konnte ich lange herumscherzen – vorausgesetzt, sein Temperament ging nicht mit ihm durch. Und eine Zeitlang war ich heimlich in Herz As verliebt. Mein eigenes Gedankengeschöpf wuchs mir ans Herz, so einsam war ich. Aber ich glaubte, sie wirklich vor mir zu sehen. Sie trug ein gelbes Kleid, hatte lange helle Haare und grüne Augen. Mir fehlte auf der Insel eine Frau. In Lübeck war ich mit einem Mädchen namens Stine verlobt gewesen. Ach ja, die See hat ihr den Liebsten geraubt.“
Der alte Mann fuhr sich mit den Fingern durch den Bart, dann saß er lange schweigend da.
„Es ist spät, mein Junge“, sagte er schließlich. „Und du mußt erschöpft sein nach allem, was du mitgemacht hast. Vielleicht möchtest du lieber, daß ich morgen weitererzähle?“
„Nein, nein“, protestierte ich. „Ich will alles hören.“
„Ja, natürlich. Außerdem mußt du alles wissen, ehe wir aufs Jokerfest gehen.“
„Aufs Jokerfest?“
„Aufs Jokerfest, ja.“
Er stand auf und ging im Zimmer hin und her.
„Aber du mußt Hunger haben“, sagte er.
Das konnte ich nicht leugnen. Der alte Mann ging in eine kleine Speisekammer und holte Lebensmittel, die er auf schöne Glasteller verteilte. Er stellte die Teller zwischen uns auf den Tisch.
Wenn ich bisher geglaubt hatte, das Essen auf der Insel sei wahrscheinlich spartanisch und schlicht, dann sah ich mich jetzt getäuscht: Frode brachte erst Brot und Brötchen, dann verschiedene Käse und Pasteten. Er holte auch einen Krug Milch; sie sah weiß und lecker aus, aber ich wußte, daß es Milluckenmilch war. Am Ende gab es Nachtisch: eine große Schüssel mit zehn oder fünfzehn
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