Das Kartengeheimnis
vieldeutig war, daß die Priester sie für den Fragenden erst einmal ausgiebig deuten mußten. Auf diese Weise machten die Griechen sich Apollons Weisheit zunutze, denn Apollon wußte alles, über die Vergangenheit wie über die Zukunft.«
»Und was wollen wir fragen?« fragte ich jetzt.
»Wir werden fragen, ob wir in Athen Anita finden werden«, antwortete mein Vater. »Du bist der Priester, der die Antwort deutet, und ich bin die Pythia, die die Antwort des Gottes überbringt.«
Und damit setzte er sich auf die Ruinen des bekannten Apollon-Tempels und begann, wie ein Verrückter mit Kopf und Armen zu wackeln. Einige französische und deutsche Touristen wichen erschrocken zurück, und ich fragte ernsthaft: »Finden wir Anita in Athen?«
Es war deutlich zu sehen, daß Vater auf die Wirkung von Apollons Kräften wartete. Schließlich sagte er: »Junger Mann aus fernem Land... trifft schöne Frau... bei altem Tempel.«
Dann kam er wieder zu sich. Er nickte zufrieden. »Das müßte reichen«, sagte er. »Die Pythia hat nie klarere Antworten gegeben.«
Ich war nicht seiner Meinung, daß das eine befriedigende Antwort war: Wer war der junge Mann, wer die schöne Frau und wo der große Tempel?
»Wir werfen eine Münze, ob wir sie finden«, sagte ich. »Wenn Apollon dein Mundwerk lenken kann, dann schafft er das sicher auch mit einer Münze.«
Vater stimmte diesem Vorschlag zu. Er zog ein Zwanzig-Drachmen-Stück aus der Tasche, und wir beschlossen, daß wir bei Zahl Mama in Athen finden würden. Ich warf die Münze in die Luft und wartete gespannt.
Zahl! Dick und deutlich Zahl kam dabei heraus! Die Zahl lugte zu uns hoch, als hätte sie schon seit Jahrtausenden auf dem Boden gelegen und nur darauf gewartet, daß wir vorüberkamen und sie entdeckten.
KREUZ KÖNIG
... es quälte ihn ganz schrecklich, daß er nicht mehr über das Leben und die Welt wußte...
Nachdem uns das Orakel versichert hatte, daß wir Mama in Athen finden würden, stiegen wir weiter im Tempelgebiet aufwärts und fanden ein altes Theater, das fünftausend Zuschauern Platz bot. Vom Theater aus überblickten wir das gesamte Tempelgelände bis hinunter ins Tal. Dann kehrten wir um, und auf dem Weg nach unten sagte Vater: »Ich muß dir noch etwas über das Orakel von Delphi erzählen, Hans-Thomas. Verstehst du – dieser Ort ist für Philosophen wie uns von besonderem Interesse.«
Wir setzten uns auf einige Tempeltrümmer. Es war ein seltsamer Gedanke, daß sie zweitausend Jahre alt waren.
»Erinnerst du dich an Sokrates?« fragte er.
»Nicht sehr gut«, mußte ich zugeben. »Aber das war doch ein griechischer Philosoph?«
»Genau. Ich will dir erzählen, was das Wort Philosoph bedeutet...«
Ich wußte, das war der Anfang eines Vortrags, und das war, ehrlich gesagt, eine ganz schöne Zumutung, denn inzwischen knallte uns die Sonne ins Gesicht, daß der Schweiß nur so strömte.
»Einen Philosophen nennen wir einen Menschen, der nach Weisheit sucht. Damit ist nicht gesagt, daß ein Philosoph besonders weise ist. Verstehst du den Unterschied?«
Ich nickte.
»Der erste, der das erkannte und danach lebte, war Sokrates. Er wanderte über den Marktplatz von Athen und sprach mit den Leuten, belehrte sie aber nie. Ganz im Gegenteil – er redete mit denen, die ihm begegneten, um selber etwas zu lernen. Die Felder und Bäume auf dem Land könnten ihn nichts lehren, meinte er. Aber er war ziemlich enttäuscht, als er entdeckte, daß die Leute, die so gern mit ihren großen Kenntnissen prahlten, im Grunde überhaupt nichts wußten. Vielleicht konnten sie ihm die Tagespreise für Wein und Olivenöl nennen, aber sie konnten ihm nichts Wesentliches über das Leben erzählen. Sokrates selber sagte gerne, er wisse nur eins – und zwar, daß er nichts wisse.«
»Dann war er aber nicht besonders klug«, wandte ich ein.
»Immer mit der Ruhe«, sagte Vater streng. »Wenn zwei Personen von einer Sache keinen Schimmer haben und der eine trotzdem den Eindruck vermittelt, ganz viel zu wissen – wer ist dann wohl der Klügere von beiden?«
Ich mußte zugeben, daß der Klügere der war, der nicht so tat, als wisse er mehr, als er tatsächlich wußte.
»Dann hast du die Sache begriffen. Und was Sokrates zum Philosophen machte, war eben, daß es ihn wirklich quälte: Es quälte ihn ganz schrecklich, daß er nicht mehr über das Leben und die Welt wußte. Er fühlte sich total außen vor.«
Wieder nickte ich.
»Und dann ging ein Mann aus Athen zum Orakel von
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