Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Kartengeheimnis

Das Kartengeheimnis

Titel: Das Kartengeheimnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jostein Gaarder
Vom Netzwerk:
bestätigen zu lassen, war die Teilnahme an Volkshochschulkursen gewesen. Er hatte vorher schon alles gelesen, aber erst im letzten Herbst hatte er sich für diese Kurse angemeldet. Und es hatte ihm natürlich nicht gereicht, dem »Professor« nur zuzuhören; er hatte ihn auch mit zu uns nach Hause nach Hisøy geschleift. »Ich konnte den armen Kerl doch nicht allein im Hotel sitzenlassen«, sagte er. Und so lernte auch ich ihn kennen. Der Typ redete die ganze Zeit wie ein Wasserfall. Er hatte sich fast ebensosehr in die ewigen Wahrheiten verbissen wie mein Vater. Der Unterschied war nur, daß der »Professor« ein halbgebildeter Schwindler war und mein Vater nur ein Schwindler.
    Jetzt starrte Vater auf die venezianische Festung. Dann sagte er: »Nein, Gott ist tot, Hans-Thomas. Und wir haben ihn umgebracht.«
    Ich fand diese Aussage so unverständlich und entsetzlich, daß ich gar nicht erst darauf einging.
    Als der Golf von Korinth hinter uns lag und wir uns in die Berge nach Delphi hinaufquälten, kamen wir an endlosen Olivenhainen vorbei. Wir hätten es an diesem Tag noch nach Athen schaffen können, aber Vater erklärte, wir könnten nicht einfach an Delphi vorüberbrettern, ohne dem alten Heiligtum einen Besuch abzustatten.
    Wir erreichten Delphi gegen Mittag und suchten uns ein Hotel, das über der kleinen Stadt an einem Berghang lag. Es gab hier noch viele andere Hotels, aber mein Vater entschied sich für das mit der besten Aussicht aufs Meer.
    Vom Hotel aus gingen wir durch die Stadt zum berühmten Tempelgebiet zwei Kilometer weiter östlich. Als wir uns dem Ausgrabungsfeld näherten, fing mein Vater an zu erzählen: »Während der ganzen Antike sind die Menschen hierhergekommen, um Apollons Orakel um Rat zu fragen. Sie fragten nach allem möglichen – wen sie heiraten und wohin sie reisen, wann sie gegen andere Staaten in den Krieg ziehen und an welche Kalender sie sich halten sollten.«
    »Aber was war das Orakel?« wollte ich wissen.
    Vater erzählte, daß der Gott Zeus zwei Adler ausgesandt hatte, die in entgegengesetzter Richtung um die Erde fliegen sollten. Und als sie sich in Delphi trafen, glaubten die Griechen, Delphi sei der Mittelpunkt der Erde. Dann kam Apollon. Ehe er sich in Delphi niederlassen konnte, mußte er den gefährlichen Drachen Python erschlagen, und deshalb wurde seine Priesterin Pythia genannt. Als der Drache erschlagen war, verwandelte er sich in eine Schlange, die Apollon von da an immer begleitete.
    Ich muß zugeben, daß ich davon nicht viel kapierte, und was ein Orakel war, hatte er mir auch noch nicht erklärt. Aber nun näherten wir uns dem Eingang zum Tempelgebiet. Es lag in einer Schlucht am Fuße des Berges Parnaß. Auf diesem Berg lebten angeblich die Musen, die den Menschen künstlerische Fähigkeiten verliehen.
    Ehe wir das Tempelgebiet betraten, verlangte mein Vater, daß ich von der heiligen Quelle trank, die ein Stück unterhalb des Eingangs lag. Hier mußten sich seit alters her alle reinigen, ehe sie die heiligen Stätten betraten, behauptete er. Außerdem verleihe es Weisheit und poetische Begabung, wenn man aus der Quelle trank.
    Am Eingang kaufte mein Vater eine Karte, die zeigte, wie es hier vor zweitausend Jahren ausgesehen hatte. Ich fand, die konnten wir gut gebrauchen, denn es gab hier nur noch unübersichtliche Ruinen.
    Erst passierten wir die Reste der Schatzkammer des alten Stadtstaates. Man mußte Apollon schöne Geschenke machen, um das Orakel befragen zu dürfen, und sie wurden in eigenen Häusern aufbewahrt, die die einzelnen Staaten errichten lassen mußten.
    Als wir den großen Apollon-Tempel erreichten, war Vater schließlich eine bessere Erklärung dafür eingefallen, was das Orakel war.
    »Die Reste, die du hier siehst«, begann er, »gehören zu einem großen Apollon-Tempel. Im Tempel steht ein ausgehöhlter Stein, den sie ›Nabel‹ nannten, denn die Griechen hielten diesen Tempel für den Nabel der Welt. Sie glaubten auch, daß Apollon in diesem Tempel wohnte – jedenfalls zu bestimmten Jahreszeiten. Und ihn fragte man um Rat. Er sprach durch seine Priesterin Pythia, die auf einem dreifüßigen Schemel über einer Erdspalte saß. Aus dieser Spalte stiegen betäubende Gase hoch, die die Pythia vollständig umnebelten. Das mußte so sein, damit sie Apollons Sprachrohr werden konnte. Wer nach Delphi kam, teilte den Priestern erst seine Frage mit – und die leiteten sie an die Pythia weiter. Sie gab dann eine Antwort, die so nebelhaft und

Weitere Kostenlose Bücher