Das Kartengeheimnis
während der Joker wie ein Kind um das Boot herumtanzte. Sie wandte mir den Rücken zu.
„Herz As?“ flüsterte ich.
Sie drehte sich um und blickte so zärtlich und sehnsüchtig zu mir auf, daß ich schon fürchtete, sie könnte mich festhalten wollen. Doch sie lehnte sich gegen die Palme und senkte den Blick.
„Endlich habe ich den Weg aus dem Labyrinth gefunden“, sagte sie. „Jetzt weiß ich, daß ich an einem anderen Strand zu Hause bin... Hörst du, wie die Wellen von einem Strand herrollen, der Jahre und Meilen von diesem hier entfernt ist?“
„Ich verstehe nicht, was du meinst“, sagte ich.
„Es gibt einen kleinen Jungen, der an mich denkt“, sagte sie. „Ich kann ihn hier nicht finden... aber vielleicht kann er mich finden. Ich habe mich so weit fort von ihm verirrt, verstehst du. Ich habe Meere und ein Gemüt durchquert, hohe Gebirge und schwierige Gedanken habe ich durcheilt. Aber irgend jemand hat die Karten neu gemischt ...“
„Sie kommen!“ rief der Joker.
Ich fuhr herum und sah, wie der ganze Zwergenschwarm zwischen den Palmen hervorgestürmt kam. Ganz vorne preschten vier Millucken mit ihren Reitern – es waren die vier Könige.
„Fangt sie!“ rief der Pik König. „Packt sie wieder in die Patience!“
Doch da gab es einen ohrenbetäubenden Knall, und irgend etwas warf mich auf den Rücken. Und bis ich mich wieder aufgerappelt hatte, waren wie auf ein Zauberwort Millucken und Zwerge verschwunden. Ich drehte mich nach Herz As um, aber auch sie war nicht mehr zu sehen. Ich stürzte zu der Palme, und dort, genau an der Stelle, wo sie gestanden hatte, fand ich eine Spielkarte, die mit dem Bild nach unten lag. Ich drehte sie um, und es war – Herz As.
Ich spürte, wie mir die Tränen kamen und sich zugleich ein seltsamer Zorn in meinen Kummer drängte. Ich stürzte zu der Stelle, wo die Millucken und Zwerge zwischen den Palmen hervorgestürmt waren. Da wirbelte ein Windstoß einen Schwarm Spielkarten durch die Luft. Ich hielt bereits das Herz As in der Hand; nun sammelte ich auch die restlichen einundfünfzig Karten ein. Alle waren sie abgegriffen und an den Rändern ausgefranst, und die verschiedenen Bilder waren kaum noch voneinander zu unterscheiden. Ich steckte sie eine nach der anderen in die Tasche. Als ich die letzte aufhob, entdeckte ich vier Käfer. Sie waren weiß und hatten sechs Beine. Ich wollte sie mit dem Finger antippen, doch da krochen sie unter einen Stein und waren verschwunden.
Abermals tat es einen Knall, und ich spürte, wie kräftige Wellen über meine Füße spülten. Ich sah, daß der Joker schon im Boot saß und von der Insel wegruderte. Rasch watete ich hinterher. Ich stand bis zur Hüfte im Wasser, als ich das Boot erreichte und an Bord klettern konnte.
„Der Bäckersohn will also doch mitkommen“, sagte der Joker. „Man wollte schon allein wegfahren.“
Er gab mir ein Ruder, und während wir uns in die Riemen legten, sahen wir die Insel im Meer versinken. Das Wasser kochte und brodelte um die Wipfel der Palmen. Als die letzte unterging, sah ich einen kleinen Vogel von ihr auffliegen.
Wir ruderten um unser Leben, damit uns nicht der Sog der versinkenden Insel in die Tiefe zog. Als wir endlich die Ruder ins Boot ziehen konnten, bluteten mir die Hände. Auch der Joker hatte wie ein ausgewachsener Mensch gerudert; seine Hände aber waren noch so weiß und rein wie am Vortag, als er sie mir vor Frodes Haus gereicht hatte.
Bald versank die Sonne im Meer. Wir ließen uns die ganze Nacht und den gesamten darauffolgenden Tag mit Wind und Wetter treiben. Ich versuchte ein paarmal, ein Gespräch mit meinem Begleiter anzufangen, aber ich brachte kaum ein Wort aus ihm heraus. Er saß die meiste Zeit nur stumm an meiner Seite, mit seinem hinterhältigen Lächeln um den Mund.
Spätabends las uns dann ein Schoner aus Arendal auf. Wir erzählten, daß wir vor einigen Tagen mit der Maria Schiffbruch erlitten hätten und wahrscheinlich die einzigen Überlebenden seien.
Der Schoner war unterwegs nach Marseille, und während der ganzen langen Reise nach Europa blieb der Joker so stumm wie zuvor im Boot. Die Seeleute hielten ihn für einen komischen Vogel und ließen ihn in Frieden. Kaum waren wir in Marseille an Land gegangen, verschwand der kleine Narr blitzschnell in einer Gasse zwischen zwei Lagerhäusern. Er hatte nicht einmal ein Abschiedswort für mich.
Später im selben Jahr kam ich nach Dorf. Ich hatte so seltsame Dinge erlebt, daß ich glaubte, für
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