Das Kartengeheimnis
los.
Erst, als sie wieder aufblickte, betrat Vater die Bühne. Er kam einen oder zwei Schritte auf uns zu und sagte: »Wir sind durch ganz Europa gefahren, um dich zu suchen.«
Mehr war nicht nötig, denn jetzt legte Mama die Arme um seinen Hals und weinte dort weiter. Nicht nur die Fotografen wurden Zeugen dieses bittersüßen Spektakels. Ein paar Touristen blieben ebenfalls stehen und glotzten ohne die leiseste Ahnung, daß es mehrere hundert Jahre gedauert hatte, diese Begegnung vorzubereiten.
Als Mama mit dem Weinen fertig war, fiel sie urplötzlich in ihre Rolle als Model zurück. Sie fuhr herum und rief den Fotografen etwas auf griechisch zu. Sie zuckten mit den Schultern und antworteten etwas, was Mama offenbar ziemlich wütend machte. Jedenfalls entwickelte sich ein ziemlicher Krach zwischen ihr und den dämlichen Fotografen, bis denen endlich aufging, daß sie das Spiel verloren hatten. Sie packten ihre Ausrüstung zusammen und schlenderten hinunter zum Tempelgebiet. Einer von ihnen nahm sogar den Hut mit, den Mama weggeworfen hatte, als sie auf mich zugerannt war. Kurz vor dem Ausgang zeigte einer von ihnen auf seine Uhr und rief uns noch etwas zu, was wahrscheinlich ein paar handfeste griechische Unverschämtheiten waren.
Als wir endlich allein waren, wurden wir alle drei so verlegen, daß wir nicht wußten, was wir tun oder sagen sollten. Es ist gar nicht so schwer, Menschen wiederzubegegnen, die man viele Jahre lang nicht gesehen hat; schwierig wird es erst, wenn sich der erste Schreck gelegt hat.
Die Sonne stand schon so tief am Himmel, daß sie unter den Giebel des alten Poseidon-Tempels gerutscht war. Eine Reihe Säulen warf lange Schatten über das Plateau. Ich war nicht sonderlich überrascht, als ich plötzlich unten links an Mamas Kleid ein rotes Herz entdeckte.
Ich weiß nicht mehr, wie oft wir um den Tempel herumgingen, aber mir war klar, daß nicht nur Mama und ich Zeit brauchten, um wieder miteinander vertraut zu werden. Für einen alten Seemann aus Arendal war es bestimmt nicht leicht, den passenden Ton im Umgang mit einem weltgewandten Model zu finden, das fließend Griechisch sprach und seit vielen Jahren in Griechenland wohnte. Und für das Model war die Sache sicher auch nicht einfach. Also erzählte Mama vom Tempel des Meeresgottes, und mein Vater redete vom Wetter. Vor vielen Jahren war er einmal bei schwerer See am Kap Sounion vorbei nach Istanbul gefahren.
Als die Sonne hinter dem Horizont verschwand und die Umrisse des alten Tempels noch klarer hervortraten, gingen wir hinunter zum Ausgang. Ich hatte mich während der letzten Minuten ein wenig im Hintergrund gehalten, denn ob das hier nur eine kurze Begegnung oder das Ende einer langen Trennung würde, konnten nur die beiden Erwachsenen entscheiden, die sich so weit voneinander verirrt hatten.
Auf jeden Fall mußte Mama mit uns zurück nach Athen fahren, denn die Fotografen hatten auf dem Parkplatz nicht auf sie gewartet. Vater öffnete die Tür unseres Fiat, als wäre es ein Rolls-Royce und Mutter mindestens die Gattin eines Präsidenten.
Ehe Vater den Motor anließ, redeten wir alle drei erst eine Zeitlang wild durcheinander. Dann machten wir uns auf den Weg nach Athen. Als wir am ersten Dorf vorüberfuhren, wurde ich zum Gesprächsleiter ernannt.
In Athen stellten wir den Wagen in der Hotelgarage ab, dann standen wir lange vor dem Hotel auf der Straße, ohne etwas zu sagen. Tatsache war, wir hatten, seit wir den alten Poseidon-Tempel verlassen hatten, ununterbrochen geredet; aber keiner von uns hatte auch nur ein Wort darüber verloren, worum es hier eigentlich ging.
Am Ende war ich es, der das peinliche Schweigen brach.
»Und jetzt ist es wohl Zeit, gewisse Zukunftspläne zu machen«, sagte ich.
Mama legte mir darauf den Arm um die Schultern, und Vater quetschte sich ein paar Albernheiten darüber ab, daß hier alles schön in der richtigen Reihenfolge ablaufen solle. Nach einigem Hin und Her aber beschlossen wir, uns zusammen auf die Dachterrasse zu setzen, um unser Wiedersehen mit etwas Kaltem und Erfrischendem zu feiern. Oben angekommen, winkte Vater dem Kellner und bat um eine Flasche Limonade für Vater und Sohn und den teuersten Champagner des Hauses für Madame.
Der Kellner kratzte sich am Kopf und sah uns an, als zweifelte er endgültig an seiner Berufswahl. Er notierte kopfschüttelnd die Bestellung und verschwand in Richtung Bar. Mama, die nicht wissen konnte, was hier vor sich ging, sah Vater verwundert
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