Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Kartengeheimnis

Das Kartengeheimnis

Titel: Das Kartengeheimnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jostein Gaarder
Vom Netzwerk:
den Rest meines Lebens darüber nachdenken zu müssen. Und dazu war Dorf ein geeigneter Ort. Hingekommen bin ich ganz zufällig vor nun zweiundfünfzig Jahren. Aber als ich sah, daß sie keinen Bäcker hatten, eröffnete ich eine kleine Bäckerei. Ich war ja Bäckerlehrling gewesen, damals in Lübeck, ehe ich zur See gegangen war. Und seither bin ich hier zu Hause.
    Von meinen Erlebnissen habe ich nie jemandem erzählt. Man hätte mir doch nicht geglaubt. Ja, manchmal habe ich selber an der Geschichte von der magischen Insel gezweifelt. Aber als ich in Marseille an Land ging, trug ich einen weißen Sack über der Schulter. Und diesen Sack habe ich samt seinem Inhalt in all diesen Jahren sorgsam gehütet.‹

HERZ ZWEI
    ... sie steht wohl an einem großen Strand und schaut übers Meer...
    Ich sah von dem Brötchenbuch auf. Es war nach halb vier, und das Eis, das vor mir stand, war geschmolzen. Zum allerersten Mal kam mir ein ungeheuerlicher Gedanke: Frode hatte gesagt, daß die Zwerge auf der magischen Insel nicht alterten wie wir Menschen – und wenn das stimmte, mußte der Joker noch immer auf der Welt sein.
    Mir fiel ein, was Vater auf dem alten Marktplatz von Athen über das Wüten der Zeit gesagt hatte. Über die Zwerge auf der Insel aber hatte die Zeit keine Macht gehabt, denn obwohl sie quicklebendig auf der Welt herumgesprungen waren, bestanden sie doch nicht aus Fleisch und Blut wie wir. Ein paarmal wurde sogar angedeutet, daß die Zwerge unverwundbar waren: Keiner schnitt sich, als der Joker auf dem Jokerfest Flaschen und Karaffen zerschlug. Der Joker verletzte sich nicht, als er den Felshang hinunterrutschte, und seinen Händen sah man die harte Ruderpartie weg von der sinkenden Insel nicht an. Aber das war noch nicht alles: Der Bäcker-Hans hatte außerdem erzählt, daß die Zwerge immer kalte Hände hatten... Ich spürte, wie es mir eiskalt über den Rücken lief: Der Zwerg! Auch er hatte kalte Hände gehabt! War es möglich, daß der seltsame Zwerg von der Tankstelle derselbe war, der vor mehr als hundertfünfzig Jahren zwischen zwei Lagerhäusern in Marseille verschwunden war? Hatte der Joker selbst mir die Lupe gegeben, mit der ich las, und mir den Weg zu dem Brötchenbuch gezeigt, in dem ich las? War es der Joker gewesen, der auf dem Jahrmarkt in Como, auf der Brücke in Venedig, auf der Fähre nach Patras und auf dem Syntagmaplatz in Athen aufgetaucht war?
    Der Gedanke war so ungeheuerlich, daß mir beim Anblick des geschmolzenen Eises schlecht wurde. Ich sah mich nach allen Seiten um und hätte mich nicht gewundert, wenn der Zwerg auch hier aufgetaucht wäre. Aber nur Vater kam über die Straße gehetzt und riß mich aus meinen Gedanken.
    Ich konnte schon von weitem sehen, daß er Hoffnung hatte, Mama zu finden. Und aus irgendeinem Grund mußte ich daran denken, wie Herz As übers Meer geblickt und von einem Strand gesprochen hatte, der Jahre und Meilen von dem entfernt lag, an dem sie selber stand, ehe sie wieder in eine Spielkarte verwandelt wurde.
    »Ich weiß, wo sie sich heute nachmittag aufhält«, sagte Vater außer Atem.
    Ich nickte. Irgendwie waren wir am Ende unserer Reise angekommen.
    »Sie steht wohl an einem großen Strand und schaut übers Meer«, sagte ich.
    Vater setzte sich mir gegenüber.
    »Kann schon sein, ja. Aber woher weißt du das?«
    Ich zuckte die Achseln.
    Und dann erzählte Vater, daß sich Mama zu Filmarbeiten auf einer großen Landzunge in der Ägäis aufhielt. Kap Sounion hieß die Landzunge. Sie lag an der Südspitze des griechischen Festlandes, siebzig Kilometer südlich von Athen.
    »Ganz an der Spitze stehen noch riesige Ruinen eines Poseidon-Tempels«, fügte er hinzu. »Poseidon war der griechische Meeresgott. Vor dem Tempel sollen Aufnahmen von Anita gemacht werden.«
    »Junger Mann aus fernem Land trifft schöne Frau bei altem Tempel«, sagte ich.
    Vater seufzte resigniert. »Was redest du denn bloß die ganze Zeit?«
    »Das Orakel von Delphi«, sagte ich. »Du warst doch die Pythia.«
    »Ja, verflixt. Aber verstehst du – ich habe eher an die Akropolis gedacht.«
    » Du schon. Aber Apollon nicht, zum Henker!«
    Er schenkte mir ein Lächeln, das nicht leicht zu deuten war.
    »Die Pythia war wohl so benebelt, daß sie nicht mehr weiß, was sie gesagt hat«, gab er schließlich zu.
    Vieles, was ich auf der langen Reise erlebt habe, weiß ich kaum noch, aber die Fahrt zum Kap Sounion werde ich nie vergessen.
    Als wir alle Badeorte südlich von Athen hinter uns

Weitere Kostenlose Bücher