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Das Kartengeheimnis

Das Kartengeheimnis

Titel: Das Kartengeheimnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jostein Gaarder
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gelassen hatten, lag rechts von uns das eisblaue Mittelmeer.
    Wir konnten beide an nichts anderes denken als daran, wie es wohl sein würde, Mama wiederzusehen. Trotzdem versuchte Vater, über ganz andere Dinge zu sprechen. Ich glaube, er wollte nicht, daß ich mir falsche Hoffnungen machte. Einmal fragte er sogar, ob mir unsere Ferien gefallen hätten.
    »Am liebsten wäre ich mit dir zum Kap Horn oder zum Kap der Guten Hoffnung gefahren«, sagte er. »Jetzt kommst du wenigstens zum Kap Sounion.«
    Die Fahrt war gerade so lang, daß Vater eine Zigarettenpause brauchte. Wir hielten auf einer Bergkuppe in einer kargen Mondlandschaft. Tief unter uns schäumte das Meer. Zwei Badenixen lagen wie träge Seehunde auf den Felsen. Das Wasser war so blau und durchsichtig, daß mir bei seinem Anblick die Tränen in die Augen traten. Ich glaubte, in zwanzig, dreißig Meter Tiefe den Meeresboden sehen zu können; aber Vater meinte, es könne sich höchstens um acht oder zehn Meter handeln.Viel mehr wurde nicht gesagt. Es war wahrscheinlich die stillste Zigarettenpause auf der ganzen Reise.
    Lange, lange, ehe wir ihn erreichten, sahen wir den großen Poseidon-Tempel auf der Landzunge thronen.
    »Was meinst du?« fragte Vater.
    »Ob sie da ist, meinst du?«
    »Und überhaupt«, sagte er.
    »Ich weiß, daß sie da ist«, antwortete ich. »Und ich weiß, daß sie mit uns nach Norwegen zurückkommt.«
    Er lachte heiser.
    »So einfach ist das nicht, Hans-Thomas. Man verläßt nicht seine Familie und bleibt acht Jahre lang fort, um sich dann einfach wieder nach Hause schleifen zu lassen.«
    »Sie hat keine Wahl«, sagte ich.
    Ich glaube nicht, daß einer von uns noch etwas sagte, ehe wir eine Viertelstunde später das Auto unterhalb des großen Tempels abstellten.
    Wir bahnten uns unseren Weg zwischen zwei Reisebussen hindurch und an einer Gruppe von vierzig, fünfzig Italienern vorbei. Dann mußten wir so tun, als wollten wir wie alle anderen den Tempel besichtigen, und zweihundert Drachmen bezahlen, damit wir das Tempelgebiet betreten durften. Als wir auf ein Plateau hinaufgestiegen waren, zog Vater einen Kamm hervor und faltete den albernen Sonnenhut zusammen, den er sich in Delphi gekauft hatte.

HERZ DREI
    ... eine aufgetakelte Frau mit einem breitkrempigen Hut...
    Von da an überstürzten sich die Ereignisse, so daß es mir noch immer schwerfällt, meine Eindrücke zu sortieren. Zuerst entdeckte Vater am einen Ende des Plateaus zwei Fotografen und eine kleine Gruppe von Menschen, die offenbar keine normalen Touristen waren. Als wir uns ihnen näherten, sahen wir eine aufgetakelte Frau mit einem breitkrempigen Hut, dunkler Sonnenbrille und einem langen dottergelben Kleid. Offensichtlich stand sie im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit.
    »Das ist sie«, sagte Vater. Er blieb erst stocksteif stehen, während ich auf sie zuging, dann kam er mir nach.
    »Knipspause!« rief ich den beiden Fotografen zu, die herumfuhren, obwohl sie wahrscheinlich nichts verstanden hatten.
    Ich weiß noch, daß ich ein bißchen wütend war. Ich fand, es ging zu weit, daß so viele Menschen Mama begafften und fotografierten, während wir sie seit über acht Jahren überhaupt nicht gesehen hatten.
    Mama erstarrte zur Statue, als sie mich auf sich zukommen sah. Sie nahm die Sonnenbrille ab und blickte mich aus einer Entfernung von vielleicht zehn oder fünfzehn Metern an. Dann ließ sie ihren Blick zu Vater wandern – und wieder zurück zu mir.
    Mir ging der Gedanke durch den Kopf, daß ich sie ja gar nicht kannte. Und doch wußte ich genau, daß sie meine Mama war. Vielleicht weiß ein Kind so etwas einfach. Ich fand sie wunderschön.
    Der Rest lief wie in Zeitlupe vor meinen Augen ab. Mama hatte Vater erkannt, aber auf mich kam sie zugelaufen. In dem Augenblick tat Vater mir schrecklich leid; für ihn mußte es aussehen, als ob nur ich für Mama wichtig wäre. Als sie mich erreicht hatte, warf sie den schönen Hut weg und versuchte, mich hochzuheben, aber das schaffte sie nicht – in acht Jahren verändert sich nicht nur in Griechenland eine Menge. Schließlich legte sie die Arme um mich und drückte mich an sich.
    Ich weiß noch, daß ich ihren Duft erkannte und überglücklich war. Es war nicht die Sorte Glück, die man empfindet, wenn man etwas Leckeres ißt oder trinkt; denn dieses Glück saß nicht nur im Mund, es brauste durch meinen ganzen Körper.
    »Hans-Thomas!« seufzte sie zweimal, dann brachte sie keine Silbe mehr heraus, sondern weinte einfach

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