Das Kastanienhaus
nie geheiratet hatte und mit einer Freundin in London lebte. Sie arbeitete irgendwo in einem Büro, fuhr mit ihrem Austin Seven in ganz Europa herum und scherte sich keinen Deut darum, was die Leute von ihrem unkonventionellen Lebensstil hielten. Vielleicht konnte ich mich zur Sekretärin ausbilden lassen, so wie sie es gemacht hatte? Genug verdienen, um mir eine kleine Wohnung zu mieten? Der Gedanke gefiel mir immer besser. Es war nicht so romantisch wie Genf, aber zumindest würde ich von hier fortkommen und interessante Leute treffen.
Jetzt musste ich nur noch meinen Vater davon überzeugen, dass es sich um einen vernünftigen Plan und nicht bloß eine verrückte Idee handelte.
Beim Frühstück am nächsten Morgen kreuzte ich die Finger hinter dem Rücken und verkündete: » Ich habe beschlossen, mir in London einen Job zu suchen. Vera und ich teilen uns ein möbliertes Zimmer, das kommt billiger. « Sie wusste noch nichts von ihrem Glück, würde aber bestimmt Ja sagen.
» Reizend, Liebes. « Mutter war mit den Gedanken offenbar ganz woanders und verteilte zudem gerade Frühstückseier mit Speck, die auf einer Warmhalteplatte standen.
» Klingt gut « , sagte John und schüttete den größten Teil des Kaffees, der eigentlich für alle reichen sollte, in die riesige Tasse, die er irgendwo in Frankreich gekauft hatte. » Vera ist ein lustiger Vogel. Was hast du denn genau vor? «
» Lass mir ein bisschen Kaffee übrig « , sagte ich. » Ich denke, irgendeine Büroarbeit wäre für mich am besten. Und um vorher Erfahrung zu sammeln, würde ich gerne ein paar Wochen bei Beryl in der Cheapside aushelfen. « Beryl leitete die Londoner Niederlassung von Verner’s & Sons. » Was meinst du, Vater? «
» Nun ja « , sagte er, während er sorgfältig seine Zeitung zusammenfaltete und neben sein Besteck legte. » Ein weiteres Familienmitglied in der Firma? Gute Idee. « Er nahm einen gefüllten Teller von Mutter entgegen und fing an, sorgfältig Butter auf seinen Toast zu streichen. » Eine sehr gute Idee sogar. Aber du müsstest natürlich von der Pike auf das Geschäft erlernen. «
» Was meinst du damit? « Verstand er mich absichtlich falsch? Ich wollte ins Büro, nicht in die Fabrik!
» Du müsstest genau wie John den ganzen Prozess durchlaufen und als Weber anfangen « , sagte er und schob Rührei auf seinen Toast.
» Das habe ich nicht gemeint. Ich möchte Erfahrungen als Sekretärin sammeln « , sagte ich scharf. » Um in einem Büro zu arbeiten, muss ich schließlich nicht wissen, wie man das Zeug webt. Kann Beryl weben? «
Er warf mir einen strengen Blick zu, und im Raum wurde es unbehaglich still. Mutter schlüpfte hinaus und murmelte etwas über mehr Toast vor sich hin, und John betrachtete angelegentlich das Muster der Tischdecke. Vater legte leise seufzend Messer und Gabel ab, als habe er sich damit abgefunden, sein warmes Frühstück hintanzustellen, bis er seine eigensinnige Tochter belehrt hatte.
» Meine liebe Lily, lass mich dir die grundlegenden Prinzipien des Arbeitslebens erklären. Beryl kam als qualifizierte Verwaltungskraft zu uns, wohingegen du keinerlei Fähigkeiten oder Erfahrungen vorweisen kannst. Du weißt sehr gut, dass ich keine Vorzugsbehandlung für meine Familienangehörigen dulde, und ich werde dir keinen Job anbieten, bloß weil du eine Verner bist. Wenn du in der Firma arbeiten willst, dann lernst du das Geschäft von Grund auf. Du musst mir beweisen, dass du nicht nur herumspielst. «
Er holte tief Luft und fuhr dann fort: » Aber ich mache dir ein Angebot. Beweise dich hier in Westbury, und wenn du nach sechs Monaten immer noch nach London gehen und dort im Büro arbeiten möchtest, dann werde ich dir den Besuch der Sekretärinnenfachschule ermöglichen. Falls es das ist, was du wirklich willst. Falls nicht, lernst du kochen – du hast die Wahl. «
Kapitel 3
Beim Weben wird ein Schussfaden, üblicherweise mittels eines Schiffchens, durch Kettfäden gezogen, die parallel zueinander um einen Baum gespannt sind, der die gesamte Breite des Gewebes bestimmt. Dessen Struktur wird durch Heben und Senken ausgewählter Kettfäden bei jedem Durchschießen des Schussfadens variiert.
Aus: Die Geschichte der Seide von Harold Verner
Ich hatte nie beabsichtigt, Seidenweberin zu werden, aber Adolf Hitler und mein Vater ließen mir kaum eine Wahl.
Natürlich war ich bereits vertraut mit der Fabrik. Ich wohnte nebenan, hatte Botengänge für meine Mutter gemacht, war dort gewesen,
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