Das Kastanienhaus
der Arbeit. «
Ich war nicht überzeugt. Als ich mich auf den Weg über den Hof machte, war ich deprimiert: Das hier war weit weg von dem aufregenden Leben, das ich geplant hatte. Außerdem war ich so nervös, dass mein Magen nach dem Frühstück ein wenig rebellierte. Hatte ich etwa Angst davor, als Tochter des Chefs nicht ernst genommen zu werden, fragte ich mich. Oder fürchtete ich, nicht schnell genug zu lernen und meinen Vater zu enttäuschen?
» Ach, reiß dich zusammen, Lily « , murmelte ich vor mich hin. » Denk dran, das hier ist bloß vorübergehend, und dann bist du frei, kannst abhauen nach London. Also lass dich bloß nicht unterkriegen! « Ich atmete tief ein, trat durch die grüne Doppeltür in die Fabrik und stieg die lange Holztreppe zu Vaters Büro hoch.
Mein erster Eindruck von Gwen Collins war alles andere als günstig. Sie war noch recht jung, Ende zwanzig vielleicht, aber ansonsten erschien mir Johns Beschreibung ziemlich zutreffend. Eine unscheinbare Frau, ein wenig stämmig und kleiner als ich, in einem unförmigen braunen Overall und einer Hose mit breitem Aufschlag und auf dem Kopf ein Tuch mit Blumenmuster, das sie zu einem merkwürdigen Turban geschlungen hatte. Irgendetwas an ihr wirkte männlich – vielleicht lag es daran, dass sie sich überhaupt keine Gedanken über ihr Äußeres zu machen schien. Ihr schien es völlig egal zu sein, was andere von ihr dachten.
Entsprechend war ihre Miene eher streng, doch etwas schwächte diesen Eindruck ab und verlieh Gwen einen Anflug von mädchenhafter Weichheit. Ich schaute sie prüfend an, überlegte, was es war. Und dann wusste ich es: ihre Sommersprossen. Bis heute habe ich nie wieder einen Menschen mit derart vielen Sommersprossen gesehen. Abertausende Tupfen bedeckten ihr Gesicht, verschwammen zu großen Flächen, wenn sie das Gesicht verzog. Von ihrer blassen Haut darunter war kaum etwas zu erkennen. Sogar ihre Augenlider waren gesprenkelt.
Ich erwiderte ihren kräftigen Händedruck und bemühte mich um ein freundliches Lächeln. » Schön, Sie kennenzulernen, Gwen. Vater hat mir gesagt, Sie würden mir alles beibringen, was Sie wissen. Er sagt, Sie seien die reinste Fundgrube für Information aller Art. «
» Mr. Harold ist sehr freundlich, ich schätze ihn sehr « , entgegnete sie, ohne das Lächeln zu erwidern und ohne bei diesen Worten zu Vater zu blicken. Ihre blassgrünen Augen unter fast unsichtbaren blonden Wimpern musterten mich bloß mit verstörender Intensität.
Nach einer unbehaglichen Pause sagte sie schnell: » In Ordnung, wir fangen in der Packabteilung an, damit Sie erst einmal sehen, was wir so produzieren, und dann machen wir einen Rundgang durch die Fabrik, bei dem Sie einen ersten Eindruck vom Weben bekommen. « Danach drehte sie sich einfach um, verließ das Büro und ging so schnell den Flur hinunter, dass ich mich beeilen musste, um mit ihr Schritt zu halten.
Die Packabteilung war ein großer, heller Raum, der die ganze Länge des Erdgeschosses einnahm. Die Sonne schien durch sechs hohe Fenster auf der Südseite herein, sodass es drückend warm war. Hinzu kam der schwere, süße Geruch der Rohseide, der bald Teil meines Lebens werden sollte. Auf der anderen Seite stapelten sich in hölzernen Regalen, die vom Boden bis zur Decke reichten, jede Menge Stoffballen.
In der Mitte des Raums standen zwei Arbeiter an breiten Tischen, an deren Kanten glänzende Lineale angebracht waren, und vermaßen, schnitten und rollten oder falteten fachmännisch Bündel von Stoff und verpackten sie in festem braunem Papier. Auf der Fensterseite saßen vier weitere Arbeiter an Tischen mit schrägen Arbeitsplatten, auf denen zwischen zwei Rollen – eine oben und eine unten – Stoffe gespannt waren.
» Das sind die Zupfer « , sagte Gwen und stellte mich als » Miss Lily, die Tochter von Mr. Harold « vor. Als ich den Arbeitern die Hand reichte, senkten sie respektvoll den Blick und verfluchten wahrscheinlich die Tatsache, dass sie künftig in meiner Gegenwart auf ihre Wortwahl würden achten müssen.
» Bitte, sagen Sie einfach Lily « , stammelte ich. » Es ist mein erster Tag, und ich muss noch so viel lernen. « Naiv, wie ich war, stellte ich mir vor, dass sie mich vielleicht eines Tages als ihresgleichen anerkennen würden.
» Sie überprüfen die Seidenstoffe und markieren jeden Fehler, indem sie einen kurzen roten Faden in die Webkante knoten « , erläuterte Gwen und deutete auf den Rand der Rolle. » Für jeden Fehler
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