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Das Kastanienhaus

Das Kastanienhaus

Titel: Das Kastanienhaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liz Trenow
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liefern wir zusätzlich kostenlos einen halben Meter Stoff – dieser Kulanz verdanken wir unseren guten Ruf für Qualität. « Ich nickte und bemühte mich, begeisterter auszusehen, als ich mich fühlte.
    » Okay. Was wissen Sie über Seide? «
    » Nicht viel, fürchte ich « , gestand ich beschämt. Sicherlich sollte ein Mitglied der Verner-Familie solches Wissen im Blut haben – oder sich rechtzeitig dafür interessieren.
    Ich entdeckte den ersten Anflug eines Lächelns. » Dann werde ich das hier als eine Art Prüfung betrachten. «
    Gwen trat an eines der Regale und hob eine schwere Rolle auf einen der Tische, hielt sie mit der einen Hand fest, ergriff das lose Ende des Gewebes und zog mit einer einzigen, heftigen Bewegung eine Kaskade von Stoff hervor, die sich wie flüssiges Gold über den Tisch ergoss.
    » Wahnsinn « , entfuhr es mir sichtlich beeindruckt.
    Sie knüllte eine Ecke zusammen und hielt ihr Ohr daran. » Hören Sie! « Ich senkte den Kopf, und sie wiederholte das Ganze. Es hörte sich an wie reißende Baumwolle. » Dieses Rascheln ist ein guter Test für reine, im Garn gefärbte Seide. «
    Als ich es selbst probierte und den Stoff zerknautschte, übertrug sich die Vibration von der Seide auf meine Hände, lief mir die Arme hinauf und über den Hals bis in die Ohren. Ein eigenartiges Gefühl.
    Sie rollte den Goldstoff mit einer elegant routinierten Bewegung zusammen und zog einen scharlachrot, dunkelviolett und grün gestreiften Ballen heraus, breitete den Stoff mit denselben gekonnten Handgriffen auf dem Tisch aus, faltete dann ein diagonales Stück zu einer Art Krawatte zusammen und hielt es unter ihr Kinn. » Bei Krawattenstoffen handelt es sich meist um rot gestreifte Jacquardgewebe « , erklärte sie, » die auf Bestellung für Klubs und Vereine gewebt werden. Männer lieben ihre Statussymbole, nicht wahr? « Bei diesen Worten sah ich wieder winzig kleine Fältchen in ihren Augenwinkeln – bei Gwen wohl der Anflug eines Lächelns.
    » Jacquard? «
    » Wird hergestellt auf einer besonderen Webmaschine. Nur damit kann man dieses spezielle Muster weben. Ihre hugenottischen Vorfahren haben sie ursprünglich aus Frankreich mitgebracht und in England das Weben dieser Stoffe begründet. Sie werden die Maschinen sehen, wenn wir später in die Fertigungshalle gehen. «
    Sie wickelte eine dritte Rolle aus. Dieser Stoff war dunkelblau und mit zierlichen goldenen Lilien durchsetzt, dem Wappenbild der bourbonischen Könige. Gwen zog ein kleines Messinginstrument aus ihrer Tasche und klappte es vorsichtig aus. Es war ein winziges Vergrößerungsglas, befestigt zwischen zwei Platten, von denen eine in der Mitte eine quadratische Aussparung aufwies. Sie legte das Glas auf die Seide und bedeutete mir hindurchzusehen.
    Das Motiv war so stark vergrößert, dass haarfeine einzelne Seidenfädchen, die für das bloße Auge fast unsichtbar waren, jetzt aussahen wie dicke Wollfäden. Sie ließen sich problemlos anhand der Maße am Rand der inneren Aussparung vermessen. » Ich hatte ja keine Ahnung « , murmelte ich fasziniert von der Miniaturwelt hinter dem Glas. » Es ist so viel mehr daran, als ich mir je hätte vorstellen können. « Als ich aufblickte, sah ich einen Anflug von Zufriedenheit auf Gwens Gesicht, der mich an die zufriedene Miene meines Lateinlehrers erinnerte, als ich endlich diese verdammten Deklinationen richtig aufgesagt hatte.
    Sie ging an den Regalen entlang und zog einen dicken Ballen heraus. » Das hier ist gesponnene Seide « , sagte sie, wickelte den Stoff aus und legte ihn über meine Hände. Er war schwer, hatte die Textur von mattiertem Satin und die Farbe geschlagener Sahne und war herrlich sinnlich. Er fühlte sich köstlich weich und warm an, als würde man von Gänsedaunen gestreichelt, und ohne weiter nachzudenken, hob ich ihn an die Wange. Wieder erhaschte ich einen Blick auf dieses wissende Lächeln, fühlte mich ertappt und gab den Stoff beinahe überstürzt zurück. Gwens Verhalten irritierte mich – die meiste Zeit war sie kühl, professionell und geschäftsmäßig und plötzlich beunruhigend intim. Dann kam es mir vor, als könne sie meine Gedanken lesen.
    Sie blickte auf die Uhr. » Gleich ist Frühstückspause. Gerade noch Zeit genug für unser Pièce de résistance. « Zuerst glaubte ich, der Taft sei aquamarinblau. Doch sobald seine schimmernden Fäden das Licht auffingen, veränderte sich die Farbe zu einem intensiven Königsblau. Es war wie Magie, in dem einen Moment

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