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Das Kastanienhaus

Das Kastanienhaus

Titel: Das Kastanienhaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liz Trenow
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wenn ich irgendetwas von Vater wollte, doch ich hatte keine besondere Beziehung dazu. Für mich war es ein Gebäude voll lärmender Maschinen und staubigen Zubehörs, in dem kompromisslos nach den Grundsätzen von Kommerz und Profit gewirtschaftet wurde. Die Vorstellung, dort sechs Monate verbringen zu müssen, kam mir vor wie die Aussicht auf eine lebenslange Haftstrafe.
    Damals bestand die Fabrik nur aus dem zweigeschossigen Backsteingebäude mit Schieferdach. Der Haupteingang besaß eine grün gestrichene Doppeltür mit zwei Schiebefenstern zu beiden Seiten und dreien darüber. Heutzutage macht dieser Trakt bloß einen kleinen Teil des Fabrikkomplexes aus, den mein Sohn leitet und eindrucksvoll erweitert hat.
    Hinter der alten Fabrik erstrecken sich mittlerweile niedrige Baracken, in denen Greiferwebmaschinen rasseln und rattern und in einem Umfang Gewebe produzieren, der zu meiner Zeit undenkbar gewesen wäre. Selbst jetzt, wenn in der Hitze des Sommers die Türen offen stehen, um eine kühlende Brise hereinzulassen, höre ich die Webmaschinen. Aus der Ferne klingt es wie das Summen riesiger Bienenschwärme, und dieses Geräusch gibt mir das beruhigende Gefühl, dass alles in Ordnung ist.
    Damals wurde in zwei Schichten gearbeitet. Die Angestellten kamen und gingen an jedem Werktag zu Fuß oder mit dem Fahrrad, mit Ausnahme der Betriebsferien an Weihnachten und im Sommer. Der Rhythmus der Arbeit ist der gleiche geblieben, nur dass die Mitarbeiter inzwischen mit dem Auto oder dem Motorrad kommen. Familien haben seit Generationen hier gearbeitet, seit mein Ururgroßvater das Unternehmen von London hierher verlegte, fort von den Wurzeln in Spitalfields. In East Anglia gab es genug Wasser, um die Mühlen anzutreiben, und zudem erfahrene Weber, die durch die Krise im Wollhandel arbeitslos geworden waren.
    Selbst heute noch kommen mir die Gesichter der Weber vertraut vor, auch wenn ich nicht länger ihre Namen weiß. Aber ich erkenne Familienmerkmale – buschige Augenbrauen, gekerbte Kinne, krause Locken, breite Schultern, ungewöhnliche Größe oder eine besonders schlanke Figur –, die vom Vater auf den Sohn, von der Mutter auf die Tochter übergegangen sind. Sie sind treue Seelen, diese Weberfamilien, stolz auf ihre Fertigkeiten und die Schönheit der Gewebe, die sie herstellen.
    Damals wie heute fuhren mehrmals pro Woche Lastwagen auf den Hof, um Ballen von rohem Garn anzuliefern und fertige Seidenballen abzuholen. Wenn er nicht gerade in unserem Londoner Büro gebraucht wurde, ging mein Vater tagtäglich durch den Küchengarten über den Hof zur Arbeit und kehrte mittags zum Essen zurück, mit dessen Zubereitung meine Mutter einen Großteil des Morgens verbrachte. Sie setzte selten einen Fuß in die Fabrik. Ihr Platz sei im Haus, sagte sie, und sie wollte es nicht anders.
    Als ich an meinem ersten Tag in der Fabrik zum Frühstück herunterkam, musterte mich John von Kopf bis Fuß und sagte süffisant: » Den Rock ziehst du lieber aus, Schwesterchen. Mit einer Hose bist du besser bedient, wenn du dich über die Webmaschinen beugst. Und zieh flache Schuhe an, denn du wirst neun Stunden lang auf den Beinen sein. «
    » Während du auf deinem Hintern sitzt und Papiere auf dem Schreibtisch herumschiebst « , murmelte ich, während ich seinen schicken neuen Anzug und die gestreifte Krawatte musterte. Schlimm genug, als einfacher Weberlehrling anfangen zu müssen, aber dass John jetzt im Büro saß, machte die Sache noch ärgerlicher.
    Ich hatte es ihm nie missgönnt, dass er eines Tages das Familienunternehmen erbte. Damit wurde er zugleich in die Pflicht genommen, für den Rest seines Lebens eine Seidenweberei in einer Kleinstadt zu leiten. Als achte Generation männlicher Verners war es für ihn schlicht undenkbar, nicht irgendwann die Geschäfte als Vaters Nachfolger zu übernehmen – es entsprach einfach der natürlichen Ordnung der Dinge.
    » Ich wette, du wirst der alten Streitaxt zugeteilt « , sagte er und kaute geräuschvoll seinen Toast.
    » Nicht diese Ausdrücke, John! Und achte auf deine Manieren, bitte « , murmelte Mutter sanft.
    » Wer ist das? « , fragte ich.
    » Gwen Collins. Stellvertretende Leiterin der Webabteilung. Übernimmt den Großteil der Ausbildung. Eine Furcht einflößende Frau. «
    » Danke für die Ermutigung. «
    » Hör nicht auf deinen Bruder. Ihr werdet wunderbar miteinander auskommen « , sagte Mutter aufmunternd. » Man kann nie wissen, vielleicht findest du ja sogar Gefallen an

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