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Das Kastanienhaus

Das Kastanienhaus

Titel: Das Kastanienhaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liz Trenow
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da und im nächsten verschwunden. » Schön, nicht wahr? Das ist changierende Seide. Ein blauer Schussfaden, der durch grüne Kettfäden gearbeitet wurde. « Sie hielt eine Ecke des Stoffs gegen das hereinfallende Sonnenlicht. Fast hätte ich nach Luft geschnappt.
    Als ich selbst ein Stück Stoff in die Hand nahm und es hin und her drehte, um dieses faszinierende Spiel der Farben zu erzeugen – zu sehen, wie die Farbe sich veränderte –, spürte ich Gwens intensiven Blick, mit dem sie meine Reaktion genau beobachtete. Und in diesem Moment wurde mir klar, dass ich nie zuvor Seide wirklich zu würdigen gewusst hatte – ihre brillanten, schimmernden Farben, die Bandbreite von Webtechniken und Mustern. Vater und John sprachen nie auf diese Weise darüber wie diese seltsame Frau.
    Gwen war es, die mir zeigte, wie ich alle meine Sinne nutzen konnte. Dass es nicht reichte, bloß die Farben zu sehen und das Gewebe zu spüren, sondern dass man den Stoff in die Luft halten, ihn riechen, ihn zusammenknautschen musste, um den Grad seiner Knitterneigung zu erkennen oder die Geräusche zu unterscheiden, die man den verschiedenen Webarten entlocken konnte, und um die Vielfalt zu genießen wie eine Forelle an der Fliegenschnur, aber das wusste ich damals noch nicht. Erst später wurde mir allmählich klar, wie geschickt Gwen mir die Seide nahegebracht hatte, sodass ich der Verführung schließlich erlag.
    Die Kantine, ein großer, sonniger Raum im Obergeschoss der Fabrik, der heimelig nach Essen und Zigarettenrauch roch, schien das Herz der Weberei zu sein. Ein paar muntere Frauen kümmerten sich hier um alles, boten Morgenkaffee, heiße Mittagsgerichte und Nachmittagstee mit selbst gebackenem Kuchen und Keksen an. Männer und Frauen besetzten getrennte Tische und unterhielten sich über Fußball und Politik beziehungsweise über Familien und Freundschaften. Weber und Anzettler – die Männer, die die Fäden spannten – saßen zusammen, ebenso die Seidenzwirner. Die Mechaniker – Tackler genannt – bildeten in ihren ölverschmierten Overalls eine eigene Gruppe, die Färber mit ihren buntfleckigen Schürzen eine andere. Doch alle zusammen waren sie eine verschworene Gemeinschaft. Sie verband, unabhängig von Geschlecht und Arbeitsplatz, ein tief reichendes Gefühl der Kameradschaft, und Neulinge, die sich einfügten, wurden sogleich in diese große Familie aufgenommen.
    Gwen gehörte keiner Gruppe an und schien gegenüber den Kantinengesprächen immun. Wir setzten uns an einen freien Tisch, und sie nahm ihren Turban ab, fuhr sich mit den Fingern durch die roten Locken, die sich um ihren Kopf kringelten. Plötzlich kam sie mir zugänglicher vor, als habe sie sich einer Rüstung entledigt.
    » Warum sind wir uns bisher nicht begegnet, Gwen? Sind Sie in Westbury aufgewachsen? «
    Sie schüttelte den Kopf, während sie drei Teelöffel Zucker in ihren schokoladenbraunen Tee rührte.
    » Wie lange leben Sie schon hier? «
    » Sechs Jahre. Sechs überwiegend glückliche Jahre « , sagte sie, während eines ihrer seltenen Lächeln ihr Gesicht erhellte und mir zu signalisieren schien, dass ich weitere Fragen stellen dürfe.
    » Weshalb sind Sie Weberin geworden? « , fragte ich.
    » Eigentlich wollte ich Künstlerin werden. Bin auch auf die Kunsthochschule gegangen, aber dann führte eins zum anderen … «
    Ich war fasziniert. Ich hatte noch nie jemanden von der Kunsthochschule getroffen, und nach allem, was man so hörte, wimmelte es dort von Bohemiens. Gwen schien allerdings nicht dazuzugehören. » Tatsächlich? Ist ja irre! Die Kunsthochschule? « Ich war hin und weg.
    » Es ist eine lange Geschichte « , sagte sie und stellte ihre Tasse auf ihren Teller. » Ein andermal vielleicht. «
    » Was hat Sie dann zu Verners gebracht? « , beharrte ich.
    » Ihr Vater, Lily. « Sie hielt inne, wandte den Blick ab und schaute durch das Kantinenfenster hinüber zu der Silberweidenplantage jenseits der Eisenbahngleise. » Er ist ein sehr großzügiger Mann. Ich verdanke ihm viel. « Ich verspürte einen Anflug von Scham, weil ich ihn bisher nicht besonders gewürdigt hatte. Eher nahm ich ihm übel, wenn er mal wieder streng mit mir war, und außerdem fand ich ihn bei aller Freundlichkeit manchmal ein wenig distanziert. Ich hatte nie darüber nachgedacht, wie andere ihn sahen.
    Ein Hupsignal kündigte das Ende der Pause an. An allen Tischen erhoben sich die Arbeiter, rückten scharrend ihre Stühle zurecht – es handelte sich um die übliche

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