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Das Kastanienhaus

Das Kastanienhaus

Titel: Das Kastanienhaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liz Trenow
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Dann sehe ich Emily in einer zu großen orangefarbenen Fliegermontur und mit einem sperrigen Rucksack, die uns zuwinkt und in das wartende Flugzeug steigt. Die Tür schließt sich, und man sieht Emily und die anderen jetzt im Innern der Maschine still nebeneinandersitzen wie dicke orangefarbene Puppen, während das Flugzeug startet. Der Film zeigt von außen, wie es aufsteigt, bis es nur noch ein winziger Punkt am Himmel ist.
    In der nächsten Einstellung erscheint wieder das Innere des Flugzeugs – Emily steht gerade auf und macht sich für ihren Sprung bereit. Für einen Augenblick, bei dem mir fast das Herz stehen bleibt, sieht man sie als Silhouette gegen den Himmel vor der geöffneten Tür. Dann reckt sie den Daumen, lächelt ängstlich unter ihrer Schutzbrille und ist weg, fällt in Richtung Erde und schreit Worte, die keiner von uns versteht.
    Das Zimmer kommt mir plötzlich überheizt vor, und ich kann in der schweren Luft nur mit Mühe atmen. Das Bild auf dem Fernsehschirm verschwimmt vor meinen Augen, und ich schließe sie ganz, denn ich will das nicht sehen. Jetzt höre ich nur noch die Geräusche: die Musik, das Brummen des Flugzeugs, das laute Rauschen des Windes und die Schreie meiner Enkelin. Emilys Schreie klingen mit einem Mal tiefer, vermischen sich mit einer anderen Stimme, und es ist nicht ihre Angst, die ich höre, sondern seine. Und ich rufe ihm über das Heulen des Windes hinweg etwas zu und versuche verzweifelt ihn zu erreichen.
    Dann sind da Arme, die mich umfangen, eine warme Hand hält mein Handgelenk, eine andere streicht mir das Haar aus der Stirn, Stimmen dringen an mein Ohr. » Lily. Tief einatmen. Kannst du die Augen öffnen? Du bist in deinem Zimmer. Heil und unversehrt – alles ist gut. «
    Ein bisschen später liege ich auf meinem Bett, vollständig bekleidet und warm in meine Decke gewickelt. Im Radio läuft leise mein Lieblingssender. Und ich kann das langsame, tröstende Ticken der Standuhr im Flur hören. Eingehüllt in diese vertraute, heimelige Atmosphäre schließe ich beruhigt die Augen und schlafe ein.
    Als es Zeit für den Nachmittagstee ist, bringt Emily mir ein pochiertes Ei auf Toast.
    » Wie geht es dir, Granma? « , fragt sie. » Möchtest du etwas essen? «
    Sie stellt das Tablett auf der Kommode ab und hilft mir, mich aufzusetzen.
    » Es geht mir wieder gut, Liebes « , antworte ich und sage damit ausnahmsweise die Wahrheit. Ich fühle mich tatsächlich recht wohl, und der Geruch schmelzender Butter auf Toast lässt mir das Wasser im Mund zusammenlaufen. Dabei war ich zuvor kein bisschen hungrig.
    Sie holt das kleine Tablett mit den ausklappbaren Beinen, von dem ich im Liegen essen kann, stellt Toast und Ei darauf und den Tee, bevor sie es sich in meinem Ohrensessel bequem macht. Sie leistet mir oft während der Mahlzeiten Gesellschaft.
    Nach einer Weile sagt sie: » Vielleicht ist es zu neugierig, aber ich würde dich gerne etwas fragen. «
    Ich nicke bloß stumm, denn ich habe den Mund voller Ei und Toast.
    » Als dir heute Morgen so komisch wurde, weißt du, während des Films … «
    Ich sehe sie verständnislos an.
    » Da hast du einen Namen gerufen und gesagt: ›Es tut mir so leid, Stefan.‹ Das hast du mehrmals wiederholt. «
    Ich kann mich nicht daran erinnern, weshalb ich jetzt stumm seinen Namen sage: Stefan, Stefan, Stefan, bis es in meinen Ohren klingt, als würde eine mächtige Welle auf mich zurollen und ihn mir zurückbringen. Die Erinnerung fühlt sich stark und tröstlich an wie ein schöner Traum. Alles Leid und alle Schuld hat die Zeit zwar nicht zu löschen vermocht, doch sie hat beides erträglicher gemacht.
    » Wer ist Stefan? Und warum tut es dir leid? « , will Emily wissen.
    Ich nehme einen weiteren Bissen von meinem Toast, einen weiteren Schluck Tee.
    » Und? « , sagt sie. » Wirst du’s mir erzählen? Du musst es natürlich nicht « , fügt sie hinzu. » Allerdings ist es manchmal besser, etwas auszusprechen, bevor man daran erstickt. « Meine weise Enkelin!
    Mit ihrem Lächeln kriegt sie mich wie immer herum. Warum auch nicht – es ist an der Zeit, Stefan wieder lebendig werden zu lassen. Alle meine Angelegenheiten habe ich geordnet, bloß diese eine nicht. Weil ich all die Jahre nicht gelernt habe, damit umzugehen.
    Ich muss beichten und um Vergebung bitten, bevor ich sterbe, aber die Menschen, die es betrifft, sind lange tot. Außer Gwen vielleicht, doch habe ich keine Ahnung, wie und ob ich sie erreichen könnte. Deshalb will

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