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Das Kastanienhaus

Das Kastanienhaus

Titel: Das Kastanienhaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liz Trenow
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nach mir erkundigte. Wenn nicht, würde es Stunden oder Tage dauern, bis man mich fand. Ich konnte für immer gelähmt bleiben, weil keine ärztliche Hilfe kam, oder gar sterben.
    Um mich abzulenken, schaute ich den Schatten der Wolken zu, die mit großer Geschwindigkeit über meine Vorhänge wanderten. Draußen musste es windig sein. Welchen Wochentag hatten wir eigentlich? Zum Glück gab es einen Anhaltspunkt: Emilys Fallschirmsprung. Ich wusste, dass er an einem Sonntag stattgefunden und ich erst gestern Abend mit ihr telefoniert hatte. Also musste heute Montag sein. Besuch erwartete ich keinen.
    Nach einer Weile bekam ich Hunger und Durst. Und musste auf die Toilette. Achtzig ist keine Entschuldigung, inkontinent zu werden, dachte ich, während der Druck in meiner Blase sich verstärkte. Ich muss wieder eingenickt sein, denn als ich das nächste Mal die Augen aufschlug, war die Sonne weitergewandert, und unter mir hatte sich ein kalter, nasser Flecken gebildet. Vor lauter Selbstekel begann ich zu weinen. Irgendwann klingelte das Telefon und gab mir neuen Auftrieb. Jemand versuchte mich zu erreichen, würde sich Sorgen machen, wenn ich nicht ranging, und vorbeikommen, um nach dem Rechten zu sehen. Sie werden die Tür aufbrechen und mich retten.
    Das Klingeln verstummte für eine Weile, bevor es von Neuem einsetzte. Laut hallte es durch das leere Haus und war wie Musik in meinen Ohren.
    Im Krankenhaus führten sie eine Menge Tests durch. » Ich fürchte, es war ein Schlaganfall « , sagte der Arzt. » Aber Sie haben Glück im Unglück gehabt. Ich denke, Sie werden recht bald wieder in der Lage sein, Ihren Arm zu bewegen und zu laufen, wenn Sie die Anweisungen der Krankengymnastin brav befolgen. « Die Übungen sind schrecklich, doch sie scheinen zu helfen.
    Der Umzug meiner Familie ins Kastanienhaus ist durch meinen Schlaganfall früher erfolgt als geplant. Und natürlich wurde nichts aus meinem Vorhaben, mir auf meine alten Tage eine eigene kleinere Wohnung einzurichten. Weil ich nicht mehr oder noch nicht wieder Treppen steigen kann, habe ich jetzt im ehemaligen Salon mein » Wohnschlafzimmer « , wie Emily es nennt. Badezimmer und Toilette sind in der Nähe, und ich schleppe mich mit meinem Stock dorthin. Ich schaffe es sogar in die Küche, um mir selbst eine Tasse Tee zu machen. Ich genieße es, dass das Haus wieder voller Leben ist, erfüllt vom fröhlichen Lärmen meiner Enkel. Emilys jüngerer Bruder und seine Freunde rutschen das Treppengeländer herunter, Popmusik dröhnt aus dem CD -Spieler, das Klappern von Tellern und der Geruch nach Essen dringt aus der Küche, das Telefon klingelt, und die Haustür knallt, wenn alle zur Arbeit oder in die Schule gehen.
    Gerade haben Emily und ihre Mutter mir gemeinsam mein Elf-Uhr-Tablett und eine Packung Garibaldi-Kekse gebracht, die es bereits seit anderthalb Jahrhunderten gibt. So schmecken sie auch, findet meine Enkelin und verzieht das Gesicht. Ich hingegen mag diese Kekssorte.
    » Würdest du gerne meine DVD sehen? « , fragt Emily, während ihre Mutter den Tee eingießt. Warum nicht, denke ich, obwohl ich persönlich nichts davon halte, den ganzen Tag vor dem Fernseher zu verbringen. Ich nicke zustimmend.
    » Es sind die Aufnahmen von meinem Sprung « , erklärt sie mir. » Der Kameramann ist neben mir rausgesprungen und hat es aufgenommen. «
    Prompt fängt mein Herz an zu stolpern wie so oft in letzter Zeit. Oder liegt es daran, dass ich eigentlich keinen Film über einen Fallschirmsprung sehen möchte? Wie auch immer, ich ignoriere diese Unregelmäßigkeit und sage mir einfach, solange mein Herz schlägt, lebe ich.
    » Lily? « Louise, meine Schwiegertochter, schaut mich besorgt an. » Ist alles in Ordnung? «
    Ich atme tief ein, was meistens hilft. » Ja, Liebes. Mir geht’s gut « , sage ich, und meine Stimme zittert bloß ganz leicht.
    » Trink einen Schluck Tee. « Sie reicht mir einen Becher. Zum Glück benutzen die jungen Leute meist keine Tassen und Untertassen, denn die könnte ich sehr viel schlechter halten. Wenn ich dagegen aus einem Becher trinke, fällt meine Behinderung fast nicht auf.
    Emily schiebt die DVD in den Player und sieht sich nach der Fernbedienung um. » Ich hab’s selbst noch nicht gesehen « , sagt sie. » Um ehrlich zu sein, ich kann mich kaum an den Sprung erinnern, es war einfach zu schrecklich. Bestimmt habe ich geflucht. Das müsst ihr mir nachsehen. «
    Die Musik setzt ein, laut und peppig, der Titel wird eingeblendet.

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