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Das Kastanienhaus

Das Kastanienhaus

Titel: Das Kastanienhaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liz Trenow
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alle Nerven schmerzhaft zusammen, als würde man mir einen eisernen Ring um die Stirn legen. Ich spüre, dass ich Angst vor der Wahrheit habe. » Und wenn sie mir bestätigen, dass es ganz genauso war? «
    Sie zögert, und ich kann sehen, dass sich in ihrem Kopf ein Plan herauskristallisiert. » Hast du es je jemandem erzählt? Granpa? «
    Ich schüttele den Kopf. » Nicht einmal ihm. Doch ja, Gwen natürlich, weil sie es direkt miterlebt hat. Sonst niemand außer dir. Und dabei wird es auch bleiben « , sage ich bestimmt. » Es hat gutgetan, mit dir darüber zu reden, aber weiter möchte ich nicht gehen. Selbst wenn Stefans Unfall nichts mit der fehlerhaften Seide zu tun hatte – es war ein schreckliches Unrecht, sie auszuliefern, und allein das kann ich mir nicht verzeihen. «
    » Okay, das verstehe ich. « Sie schaut mich nachdenklich an. » Hast du irgendwelche Fotos von Stefan, Gran? «
    Der alte Koffer, in dem ich meine Schuld und meine Trauer und die Erinnerungen an Stefan vergraben wollte – jetzt ist es an der Zeit, ihn endgültig aus seinem Versteck zu holen. Kurz nach der Beerdigung konnte ich mich noch nicht dazu durchringen. Bin ich wirklich bereit dazu, mich meiner Vergangenheit zu stellen und Emily daran teilhaben zu lassen? Nur wenn nicht jetzt, wann dann? Soll ich es einfach meiner Familie überlassen, ihn nach meinem Tod zu finden? Nein, Stefans Leben verdient mehr Respekt. Es ist an der Zeit, endlich einzugestehen, dass ihn zu lieben ein wichtiger Teil meines Lebens und meiner Persönlichkeit ist. Mein Entschluss steht fest. Ich hole tief Luft und bitte Emily den Koffer zu holen. Schon kurze Zeit später ist sie zurück.
    » Er ist abgeschlossen, Granma. Hast du einen Schlüssel? «
    » In meinem Sekretär. Im obersten Schubfach auf der rechten Seite « , sage ich, und binnen Sekunden liegt der Koffer vor mir auf dem Tisch und der Schlüssel in meiner Hand. Einen Moment lang bin ich nervös, denke an den Tag vor fünfundfünfzig Jahren, als ich ihn für immer schloss. Um mit diesem Kapitel meines Lebens abschließen und unbelastet in die Zukunft gehen zu können. Als wäre das so einfach.
    Jetzt steht Emily ungeduldig neben mir, und es gibt kein Zurück.
    Die beiden Messingverschlüsse lassen sich leicht aufschließen. Ich klappe den Deckel auf, und sogleich weht mir eine Mischung aus vertrauten Gerüchen der Vergangenheit entgegen: nach unserem braunen Papier und nach Rohseide, nach Kuvertgummierung, Schreibtinte, Gummiringen und Fotochemikalien – und die Erinnerungen erwachen zum Leben.
    Alles ist genauso wie an dem Tag, als ich ihn schloss. Ganz obenauf liegen die khakifarbene Leinentasche und der Brief, auf dem in verblasster Tinte steht: Für meine liebste Lily. Beides habe ich nie geöffnet. Ich kann hören, wie Emily die Luft anhält, als ich den Brief in die Hand nehme.
    » Gran? Er ist ja noch zugeklebt. Hast du ihn etwa nicht gelesen? Die ganzen Jahre lang? « , flüstert sie neben mir.
    Ich kann bloß den Kopf schütteln.
    » Sollen wir ihn jetzt öffnen? «
    Ich nicke.
    Meine liebste Lilymaus,
    wenn Du diesen Brief liest, wirst Du wissen, dass ich es nicht geschafft habe. Es tut mir so leid. Ich hätte diesen Auftrag ablehnen können, aber ich bin mir sicher, Du verstehst, warum ich gehen musste. Ich schulde es uns allen, vor allem jedoch meiner Familie und unseren Freunden.
    Du warst meine Welt in den vergangenen fünf Jahren. In der ersten Sekunde, da ich Dich sah, habe ich mich in Dich verliebt. Hals über Kopf. Mit Dir habe ich die herrlichsten Momente meines Lebens geteilt, und an Dich und unsere gemeinsame Zukunft zu denken, hat mir durch all die Zeiten geholfen, da wir voneinander getrennt waren. Ich möchte den Frieden mit Dir genießen, mit Dir die Welt sehen, wie wir es uns versprochen haben, viele Kinder haben und umgeben von Dir und unserer Familie alt werden.
    Tränen treten in meine Augen, und meine Brille ist so beschlagen, dass ich nicht weiterlesen kann. Emily nimmt mir zärtlich den Brief aus den Fingern und liest den Rest mit belegter Stimme.
    Aber wenn das alles nicht sein soll, dann bleibt mir nur zu sagen, dass ich Dich liebe, Lily, mit jeder Faser meines Herzens, meiner Seele und meines Körpers. Diese Liebe wird niemals sterben, und ich hoffe, Du wirst Dich Dein Leben lang daran erinnern. Wenn unser Kleiner alt genug ist, dann sag ihm, dass sein Vater ihn sehr geliebt hat.
    Für immer, S.
    Vorsichtig legt sie den Brief beiseite und umarmt mich. Lange Zeit

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