Das Kastanienhaus
war von Robbie, der mir für » einen ganz besonderen Abend « dankte und mich bald wiederzusehen hoffte.
Die andere steckte in einem an Mutter und mich adressierten Kuvert. Es war ein kurzer Brief, der mit den einfachen Worten endete:
Verner’s war meine Welt, und ich werde Euch alle vermissen. Doch jetzt ist der Krieg vorbei, und ich muss mich um meine Mutter kümmern. Verzeiht mir, dass ich gehe, ohne mich zu verabschieden – so etwas konnte ich noch nie gut. Danke Euch beiden für alles. Gwen.
Sie hinterließ keine Anschrift.
Kapitel 23
Seit den Vierzigerjahren begannen Kunstfasern Seide in vielerlei Bereichen zu verdrängen. Aber trotz der erstaunlichen Fortschritte gibt es immer noch bestimmte Verwendungszwecke, bei denen nichts den Glanz reiner Seide, ihre Wärme, ihre Leichtigkeit, ihre Farbtiefe und ihre einfach atemberaubende Schönheit ersetzen kann.
Aus: Die Geschichte der Seide von Harold Verner
Es ist September, der Monat, den ich am wenigsten mag. Eine melancholische Zeit, in der sich überall in der Natur die Zeichen mehren, dass etwas zu Ende geht. Schwalben hocken auf Telefondrähten, sammeln sich für ihre Reise gen Süden; die Blätter der Rosskastanien im Garten werden gelb und fallen ab; bislang milde Abende werden plötzlich empfindlich kühl. Und für mich ist es der Monat, in dem vor sechzig Jahren am gleichen Tag der Zweite Weltkrieg und eine große Liebe begannen. Ein Tag, der mein Leben für immer veränderte.
Ich fühle mich zunehmend schwach und beginne mich zu fragen, ob ich bei meiner angeschlagenen Gesundheit überhaupt noch einen Winter überstehe. Werde ich die Schwalben zurückkehren, die Kastanien wieder blühen sehen? Vor drei Monaten, nach der Beerdigung meines Mannes, war ich noch ganz optimistisch, hatte Pläne, aber vier Wochen später bekam meine Hoffnung, noch ein paar schöne Jahre vor mir zu haben, einen gewaltigen Dämpfer.
Die Erinnerung an jenen Morgen, an dem das Schicksal seinen Lauf nahm, hat sich unauslöschlich in mein Gedächtnis geprägt. Mir ist, als sei es erst gestern passiert. Einen ganzen Tag dauerte es, bis sie mich fanden, und sie machen sich deswegen noch immer heftige Vorwürfe.
» Stell dir vor, ich wäre an diesem Abend nicht vorbeigekommen, dann hättest du noch eine Nacht und einen Tag hilflos dagelegen. Du hättest sterben können « , sagt Emily, und man merkt ihr den Schock an.
Das hätte ich in der Tat.
Es geschah am Tag nach ihrem Fallschirmsprung, den sie für einen guten Zweck unternahm. Mir war unwohl bei dem Gedanken, und besorgt wartete ich am Telefon, dass sie sich endlich meldete. Nachdem ich erfahren hatte, dass sie ohne einen Kratzer gelandet war, ging ich beruhigt ins Bett. Meine Welt schien wieder in Ordnung zu sein.
Als ich aufwachte, lag ich da wie eine gestrandete Schildkröte und war außerstande, mich umzudrehen oder aufzustehen. Eine Zeit lang dachte ich, es sei einer dieser Träume, in denen Arme und Beine nicht funktionieren. Ich versuchte dem entgegenzuwirken, indem ich entschlossen die Augen weit öffnete, und erkannte, dass die Sonne bereits schien und ich in einem Albtraum gefangen war: Ich konnte meinen rechten Arm und mein rechtes Bein nicht bewegen – beide fühlten sich an wie Blei. Mein Puls ging wie ein Presslufthammer. Das ist doch wohl kein Herzinfarkt, überlegte ich, und Panik erfasste mich. Mit achtzig durfte ich schließlich noch etwas vom Leben erwarten.
Als sich mein Herzschlag langsam beruhigte, überdachte ich meine Situation. Wahrscheinlich bloß ein vorübergehender Krampf, redete ich mir ein und testete den Rest meines Körpers. Mein linker Arm und mein linkes Bein schienen zu funktionieren, und ich konnte den Kopf vom Kissen heben und mich auf einen Arm aufstützen. Bei dem Versuch, mich hinzusetzen, rutschte ich allerdings halb aus dem Bett, mit dem unbeweglichen Bein voran. Wenn ich jetzt die Balance verlor, würde ich unweigerlich auf dem Boden landen und käme niemals aus eigener Kraft wieder hoch.
Mit größter Mühe hievte ich also mit meinem intakten Arm das taube Bein zurück ins Bett. Es war ungeheuer mühsam, und als ich mich endlich zurücklehnen konnte, zitterte ich vor Anstrengung, und mein Herz raste wieder. Ich befand mich in einer ausgesprochen prekären Situation: mutterseelenallein im Haus und nicht in der Lage, das Bett zu verlassen. Ein Telefon befand sich nicht in erreichbarer Nähe. Es blieb mir nichts anderes übrig, als darauf zu hoffen, dass sich bald jemand
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