Das Kastanienhaus
halten wir einander leise schluchzend, bis sie sich aufrichtet, mit dem Handrücken über die Augen wischt und tief Luft holt. » Was für ein schöner Brief. «
Ich nicke und versuche aus der Vergangenheit in die Gegenwart zurückzukehren. Es fällt mir schwer, und ich kann nicht sofort über Stefan und seinen Brief reden.
» Wie wäre es mit einem frischen Tee? « , schlage ich vor, um Zeit zu gewinnen.
Während Emily in der Küche ist, stecke ich den Brief behutsam zurück in seinen Umschlag, küsse ihn und lege ihn voller Liebe unter mein Kopfkissen, um ihn später noch einmal zu lesen. Seinen letzten Gruß an mich, sein Vermächtnis.
Als Nächstes nehme ich die khakifarbene Leinentasche aus dem Koffer, und meine arthritischen Finger schaffen es sogar, die sperrigen, lange nicht benutzten Verschlüsse zu öffnen. Darin finde ich sein Barett, ein halb volles Päckchen Players und ein Feuerzeug, ein Taschenbuch mit Sherlock-Holmes-Kurzgeschichten, das den Titel Seine Abschiedsvorstellung trägt, und das mir wohlbekannte Mäppchen aus schwarzem Leder. In den Fächern finde ich ein Bündel blauer Luftpostbriefe in meiner Handschrift, die von einem Gummiband zusammengehalten werden, und den gelbbraunen Umschlag mit Fotos – eins von mir an unserem Hochzeitstag und die drei kleineren von seiner Mutter, seinem Vater und seinen Schwestern, die er mir zum ersten Mal in der Tennishütte gezeigt hat. Im Rückblick wirken ihre ernsten Gesichter auf den ausgeblichenen, körnigen Aufnahmen auf mich wie Figuren aus einem Geschichtsbuch.
Lange nachdem der Krieg vorbei war, schrieb Kurt mir, dass er und Walter zurück nach Deutschland gegangen seien. Bis auf einen Cousin, der rechtzeitig nach Amerika emigrierte, ist die ganze Familie in Konzentrationslagern ums Leben gekommen: Eltern, Großeltern, Onkel und Tanten. Ihr Besitz wurde enteignet, und in ihrem Elternhaus lebten andere Menschen. Die Brüder waren auch nach Hamburg gefahren, um sich nach Stefans Familie zu erkundigen. Auch hier erfuhren sie nichts Gutes. Isaak wurde als Erster abgeholt, und es gab keine Unterlagen über seinen Verbleib. Hannah, Anna und Elsa hingegen hätten es beinahe geschafft, das Lager Buchenwald zu überleben. Kurz vor der Befreiung starben sie bei einer Typhusepidemie, die fast die Hälfte der unterernährten Insassen dahinraffte.
Außerdem entdecke ich in dem Mäppchen das kleine Stück seines Gebetsschals, das er mir ebenfalls einmal gezeigt hatte. Andere Stücke waren nach Auskunft von Peter Newman in seine Fliegerjacke eingenäht.
Mein Blick fällt auf das grüne in Pergament gebundene Fotoalbum mit der Aufschrift Unser Hochzeitstag, auf seine Briefe, die von einem blauen Band zusammengehalten werden, auf den Hay-Camp-Geldschein und die alte braune Lederjacke, in der er hier ankam. Ich drücke sie an mein Gesicht und meine, seinen Duft nach all den Jahren noch schwach riechen zu können. Als ich sie aus dem Koffer ziehe, fällt mir etwas Kleines, Rotes entgegen: das Filzbeutelchen mit meinen Ehe- und Verlobungsringen.
Als Emily mit dem Teetablett zurückkommt, stecke ich den kleinen Beutel hastig zwischen Bettrahmen und Matratze. Sie stellt das Tablett ab und schaut mich aufmerksam an.
» Mum fragt sich, was wir hier drin die ganze Zeit machen « , sagt sie. » Sie hat mir gesagt, ich darf dich nicht überanstrengen. Soll ich dich jetzt lieber in Ruhe lassen? Wir können ja morgen weiterreden oder sonst irgendwann. «
» Nein, ich bin nicht müde « , lüge ich. Ich fühle mich in ihrer Gegenwart stark genug, meine Erinnerungen ohne Angst oder Schmerz weiter zu erkunden. Ohne sie würde es mir schwerer fallen. Ich bin froh, dass ich den Schritt gewagt habe. Der Geist hat die Flasche verlassen, denke ich, und das ist gut so.
» Bist du dir sicher? «
Ich nicke, und sie gießt den Tee ein.
» Ich habe so viele Fragen, aber ich verstehe es, wenn du sie nicht beantworten möchtest « , sagt sie.
» Frag mich trotzdem. «
» Was meint er mit ›unserem Kleinen‹? Warst du schwanger? «
Ich nicke und frage mich, warum sie ihre Augenbrauen so verwundert hochzieht.
» Du willst mir doch nicht sagen, dass es Dad ist, oder? « , platzt sie heraus.
» O nein « , sage ich eilig. » Dein Dad ist definitiv Granpas Sohn. Stefans Kind wurde nie geboren. Ich hatte eine Fehlgeburt im dritten Monat, nachdem wir an seinem letzten Abend in einen Bombenangriff gerieten. Er hat es nie mehr erfahren. Auch nicht dass es kein Junge war – kein
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