Das Kastanienhaus
kleiner Stevie, wie er immer sagte –, sondern ein Mädchen. «
» Wie schrecklich für dich, Granma « , sagt Emily.
» Ja, das war es wirklich « , sage ich. » Obwohl sie weit entfernt war, lebensfähig zu sein, gab ich ihr einen Namen. Hannah, nach Stefans Mutter. Manchmal stelle ich mir vor, dass sie dir ziemlich ähnlich gewesen wäre. «
» Wieso? «
» Klug, frech, unabhängig. So wie ich selbst es war. «
» Ich bin trotzdem froh, dass Dad Granpas Sohn ist « , sagt sie. » Alles andere würde ihn ziemlich schockieren. «
Jetzt lachen wir gemeinsam, und ich fühle mich von einer großen Last befreit. Die Erinnerungen haben mich viele Jahre gefesselt und gequält – erst jetzt am Ende meines Lebens beginne ich zu begreifen, dass man sie akzeptieren muss. Weil sie einen zu dem machen, was man ist. Akzeptanz. War das nicht die letzte Stufe des Trauerns, über die Emily sprach?
» Hast du ein Foto von Stefan? « , fragt Emily.
Meine Finger nesteln an den Satinbändern des Hochzeitsalbums herum und blättern die schweren Seiten mit den winzigen Schwarz-Weiß-Fotos um, die ich sorgfältig mit kleinen Fotoecken bestückt habe. Gwen hat sie mit ihrer kleinen Kamera aufgenommen.
» Das ist er « , sage ich und deute mit dem Finger auf Stefan.
» Wow! Er ist wirklich sexy « , sagt sie und sieht genauer hin. » So dunkel und geheimnisvoll. Ich kann verstehen, dass du dich in ihn verliebt hast. Und dieses göttliche Kleid, das du trägst! Du siehst aus wie ein Filmstar. Woraus ist es gemacht? Rohseide? «
» Aus cremefarbener Schantungseide. Deine Urgroßmutter hat es selbst geschneidert. « Ich lächele jetzt bei den Erinnerungen, die ich mir all die Jahre versagt habe.
» Wenn ich einmal heirate, möchte ich so ein Kleid « , sagt sie.
» Das sollte kein Problem sein « , erwidere ich. » Ich bin mir sicher, dein Dad macht das möglich. «
» ›Hochzeit von Sergeant Stephen Holmes und Mrs. Lily Holmes, 14. Februar 1944‹ « , liest sie vor. » Stephen Holmes? «
» Er musste seinen Namen anglisieren. Eigentlich seine ganze Identität. Weil er Jude war, weißt du. Damals war es zu gefährlich, in Europa Jude zu sein. «
» Natürlich « , sagt sie. » Kennst du das Denkmal für die jüdischen Kinder an der Liverpool Street Station? «
» Ich habe es mir einmal angesehen, aber dann nicht mehr. Für mich weckt es zu viele traurige Erinnerungen « , sage ich.
Sie wendet sich wieder dem Album zu. » Was ist das für eine Uniform? «
» Es war die Ausgehuniform des Pionierkorps – er trug sie an diesem Tag zum letzten Mal, weil er zu einer anderen Einheit versetzt worden war. «
» Hast du je herausgefunden, wie die hieß? «
» Vor ein paar Jahren habe ich in einer Zeitung einen Artikel über eine Spezialeinheit gelesen: SOE – Special Operations Executive. Ich nehme an, bei dieser Einheit war er, denn dort wurden solche Undercover-Aktionen durchgeführt. Peter Newman wollte es mir aus Geheimhaltungsgründen bei seinem Besuch nicht verraten, zumindest keine Details. «
Emily schüttelt den Kopf und wendet sich wieder den Fotos zu. » Das da ist Großtante Vera, die erkenne ich. Und wer ist das? «
Es muss eine der Aufnahmen sein, die Mutter gemacht hat. Wir sehen alle leicht schräg aus. Bei ihr geriet nämlich alles schief. Gwen schaut missmutig in die Kamera, und ihr Haar hat sich aus ihrem Knoten gelöst. Selbst auf diesem kleinen Schwarz-Weiß-Bild kann ich ihre Sommersprossen erkennen. Was würde ich darum geben, sie wiederzusehen.
» Das ist Gwen « , sage ich und versuche locker zu klingen. » Ich habe sie bei meiner Erzählung ein paarmal erwähnt. «
Emily blickt fragend zu mir hoch. » Sie muss eine enge Freundin gewesen sein, wenn du sie zu deiner Hochzeit eingeladen hast. «
» Das war sie « , sage ich. » Eine sehr gute Freundin. Sie hat während des Krieges unendlich viel für uns getan. Sie kümmerte sich um die Firma als Fabrikleiterin, und der Familie half sie, die vielen Schicksalsschläge zu überstehen. « Ich habe nicht den Mut, ihr zu erzählen, wie sie mich nach Stefans Tod getröstet hat.
» Was ist aus ihr geworden? Lebt sie noch? «
» Ich weiß es nicht « , sage ich wahrheitsgemäß. » Sie verließ Westbury nach dem Krieg, um ihre Mutter zu pflegen. Wir haben den Kontakt verloren. Ich habe vergeblich versucht sie zu finden, denn sie ging damals, ohne uns eine Adresse zu hinterlassen. «
» Schade « , sagt Emily. » Klingt, als sei sie ein toller Mensch.
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