Das kastilische Erbe: Roman (German Edition)
auf die so viele Gedanken einstürmten. Sie war die dunkle Königin ihrer Träume. Aber ja, sie fühlte keinen Zweifel mehr, nur Erleichterung darüber, der Gestalt endlich einen Namen gegeben zu haben. Sie nickte und ließ Juanas Gesicht vor sich aufsteigen, das in so vielen langen Nächten zu ihrer Begleitung geworden war.
Die Erleichterung war nicht von langer Dauer. Eine neue Frage drängte sich ihr auf. Warum sie? Warum ausgerechnet eine unglückliche Königin, die vor fünfhundert Jahren in einem kleinen, unbedeutenden Ort in Spanien gelebt hatte? Nun gut, vielleicht war Tordesillas damals bedeutender gewesen, heute jedoch war es nur noch eine verschlafene Kleinstadt. Ein Fleck auf der Landkarte, zu dem einen nur der Zufall führen würde.
»Zufall?« Maria Anna schüttelte energisch den Kopf. »Ich habe vor langer Zeit aufgehört, daran zu glauben. Wir neigen dazu, alldem den Namen Zufall zu geben, das wir nicht verstehen können. Warum sollten wir auch? Es gibt so vieles, das größer ist als unser Verstand, und nur ab und zu wird uns die Gnade zuteil, ein Stück über unseren Horizont hinauszusehen und zu verstehen. Nein, ich glaube an Bestimmung und an das Schicksal, das uns als ein Werkzeug einsetzt, um seine Pläne zu erfüllen.«
»Warum gerade Juana?«, wiederholte Isaura.
»Es gibt für mich nur eine Erklärung«, sagte Maria Anna und sah sie eindringlich an. »Königin Juana hat für Ihre Seele irgendwann im Laufe der Zeit eine wichtige Rolle gespielt.«
»Ach ja, und wie sollte das möglich sein?«
Maria Anna lehnte sich in der Kirchenbank zurück, als fühle sie sich plötzlich müde. »Wissen Sie, was Caminata bedeutet?
» La Caminata «, stöhnte Isaura auf.
» Caminata nennt man in Spanien eine beschwerliche Reise. Daher nennen wir die Frauen so, deren Seelen nicht an die Zeit gebunden sind. Ihre Großtante war eine Caminata. «
Isaura wurde es schwindelig. »Ich verstehe nicht.«
»Carmen hat nicht nur unglaubliche Kräfte, sie ist eine der wenigen, deren Seele so stark ist, dass sie die Grenzen der Zeit durchbrechen kann. In ihrem eigentlichen Leben werden diese Frauen sehr alt, doch ihre Seele ist noch älter und hat schon viel erlebt. Nicht immer ist die Trägerin sich dessen voll bewusst.«
»Das ist alles sehr viel und so unglaublich«, stieß Isaura hervor.
Maria Anna nickte. »Ja, und nach dem, was ich hier in der Kapelle mit Ihnen erlebte, bin ich überzeugt, dass auch Ihre Seele durch die Zeit wandert.«
Isaura protestierte, doch die Nonne widersprach ihr.
»Was für eine andere Erklärung haben Sie für Ihre Träume? Warum sind Sie heute hier an diesem Ort, den eine lange Geschichte mit Juana verbindet? Sie, die viele Jahrzehnte offiziell Königin war und doch nur von den Händen eines Gefängniswärters in die des nächsten wanderte. Eine lange und sehr traurige Geschichte, doch das wissen Sie, nicht wahr?«
Isaura, die sich innerlich noch immer gegen diese Ungeheuerlichkeit sträubte, schüttelte den Kopf. »Wissen ist zu viel gesagt. Ich werde immer wieder von diesen Träumen heimgesucht, in denen ich Juana sehe, in ihrem Gefängnis und auf dem Wehrgang draußen, wie sie voller Sehnsucht über den Fluss sieht. Doch bisher wusste ich nicht einmal, wer diese Person ist, oder besser gesagt, wer sie war.«
»Möchten Sie mehr über Juana erfahren?«
Isaura durchrieselte ein warmer Schauer. »Oh ja! Bitte, erzählen Sie mir, was Sie über sie wissen.«
»Nicht genug, muss ich zu meiner Schande gestehen, doch es gibt einen Ort, an dem wir alle Antworten finden.«
Sie brauchte nicht weiter zu fragen. Sie konnte es an Isauras leuchtendem Blick sehen, dass diese nichts mehr begehrte. Endlich würden sich die Schleier lüften. Endlich würde die quälende Frage nach dem Grund und dem Sinn ihrer immer wiederkehrenden Träume beantwortet.
Sie verließen die Kirche auf der Flussseite, um sich den maurischen Bädern zuzuwenden, wie Isaura dachte, doch dann betraten sie ein anderes Gebäude, in dem eine Treppe in die Tiefe führte. In einem kleinen Vorraum vor einer mit starken Eisenbändern gesicherten Tür blieb Maria Anna stehen.
»Diese Kellergewölbe gehören noch zum ersten Palast. Vermutlich habe man hier im Mittelalter Wein gelagert oder Bier gekühlt – falls man das hier in der Gegend getrunken hat. Ich weiß es nicht. Heute jedenfalls sind dort unten einige Kammern, in die nur noch wenige Menschen hinabsteigen.«
»Und Sie dürfen dort hinunter?«, erkundigte sich
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