Das kastilische Erbe: Roman (German Edition)
Isaura.
»Das muss Sie nicht kümmern. Sie haben das Recht, mit mir dort hinunter zu gehen.«
Maria Anna entzündete eine Petroleumlampe und reichte auch Isaura eine. »Es gibt dort unten kein elektrisches Licht.«
»Warum?«
»Weil kein Außenstehender Zutritt haben soll«, meinte Maria Anna, vor der sich die Tür bereitwillig öffnete. Eine schmale, steinerne Treppe verschwand in der Schwärze zu ihren Füßen. Isaura nahm die Lampe entgegen und folgte in deren schwachem Lichtschein dem schwarzen Gewand der Nonne in die Tiefe, die keiner Zeit mehr anzugehören schien. War das nun wahrlich eine Reise in die Vergangenheit? Würde sie am Ende dieser Finsternis der alte Palast erwarten mit Juana, der dunklen Königin?
Isaura wusste nicht mehr, was sie denken sollte. Endlich erreichten sie das Ende der Treppe, und eine weitere Tür versperrte ihnen den Weg, doch auch sie war geneigt, die beiden Frauen passieren zu lassen.
Die Tür war geneigt … Nur gut, dass sie so eine Formulierung nie in einem ihrer Artikel verwenden würde. Ihre Chefredakteurin hätte sie vermutlich für verrückt gehalten oder sie gleich gefeuert.
Ein kurzer Gang öffnete sich plötzlich zu einem Gewölbe, das das Licht ihrer Lampen nicht ganz durchmessen konnte, so weit gespannt war die Decke über den steinernen Wänden, die sich zu einem Oktogon zusammenfügten. Was waren das für seltsame Muster, die die Säulen und Bogen zierten? Waren sie maurisch oder vielleicht noch älter? Sie schienen das Auge verwirren zu wollen und narrten den Geist des Betrachters. Was war dies für eine fremde, geheimnisvolle Welt? Eine mystische, ein längst vergessener Ort der Magie? Der weisen Frauen? Der Hexen?
Nein, ihr Geist wehrte sich noch immer gegen dieses Wort. Zu lange hatte er sich beruhigt der Überzeugung hingegeben, dass es so etwas wie Hexen nur in Kindergeschichten und Fantasyromanen gab. Die Hexenverfolgung war eine Ausgeburt der Intoleranz der frühen Neuzeit gewesen, die einen Sündenbock suchte und die Einheit einer Nation durch jeden abweichenden Gedanken gefährdet sah. Es gab nur eine Religion, nur eine strenge Lehre, die das Band war, das alle Menschen eines Landes zusammenhielt und sie dazu brachte, sich in Treue hinter ihren Fürsten zu scharen. Dass Menschen in der Vielfalt freier Meinungen und unterschiedlicher Religionen ein Gefühl für ihre Nation entwickeln könnten, das sie vielleicht sogar noch fester mit ihrem Land und ihrer Heimat zusammenschweißt, konnte man sich damals nicht vorstellen.
»Kommen Sie!«, rief die Nonne, deren Stimme vor unterdrückter Anspannung ein wenig zitterte. »Ich möchte Ihnen etwas zeigen.«
Sie führte Isaura in ein weiteres, kleineres Gewölbe und entzündete das Öl in zwei großen Messingschalen, sodass der Raum hell in flackerndes Licht getaucht wurde. Dann ging sie zur gegenüberliegenden Wand und zog an einem schwarzen Tuch, das ein Gemälde verhüllte. Der Stoff glitt herab und enthüllte eine Figurengruppe, die ein Maler in Öl auf der Leinwand festgehalten hatte.
Isaura erkannte sie sofort. »Die dunkle Königin!«, hauchte sie.
»Juana I. von Kastilien«, bestätigte die Schwester.
Der Maler hatte sie gut getroffen. In ihrem kostbaren Gewand, das – typisch für die spanische Mode bei Hof – die Körperformen einengte, statt sie zu umschmeicheln und natürlich zur Geltung zu bringen. Wie immer trug sie Schwarz, und der schwere Stoff ließ ihr Gesicht noch bleicher, noch durchscheinender wirken. Doch am erstaunlichsten war, wie es dem Maler gelungen war, ihren Blick einzufangen. Der tiefe Schmerz, die Verzweiflung und vielleicht auch der beginnende Wahnsinn, der nach so vielen Jahren in Gefangenschaft kaum verwundern konnte.
Isaura betrachtete die anderen Figuren im Vordergrund. Es war ihr, als müsse sie sich an diese Begebenheit erinnern. Es war etwas Wichtiges, etwas ganz Entscheidendes im Leben der dunklen Königin gewesen. Fragend sah sie zu Maria Anna. Die Nonne trat vor und deutete auf den prächtig gekleideten jungen Mann am Rand des Bildes.
»Das hier ist Kaiser Karl V . – oder hier in Spanien Carlos I., Juanas Sohn. Er hat sich zu Lebzeiten seiner Mutter in Kastilien zum König ausrufen lassen. Ein klarer Staatsstreich, doch wie hätte sie sich wehren können? Um den Schein zu wahren, unterzeichnete er alle Dokumente in ihrem und in seinem Namen, so als habe er sich mit ihr abgesprochen. Das junge Mädchen, das halb vor ihm steht und diesen Blick voller Sehnsucht
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