Das kastilische Erbe: Roman (German Edition)
Sünde seiner Familie würde für immer hinter Klostermauern verschwinden.«
»Sie waren volljährig! Er konnte nicht einfach so über Sie verfügen«, protestierte Isaura.
Maria Anna nickte. »Rechtlich gesehen ja, doch Sie dürfen nicht unterschätzen, dass die Jahre in meinem Elternhaus und unter der strengen Überwachung der Geistlichen auch Zweifel in mir gesät haben. Am Ende dachte auch ich, dass dies der einzige Weg wäre, meine Seele zu retten. Daher wurde ich in Brixen Novizin.«
»Und heute? Was denken Sie heute?«
»Ich glaube an den Allmächtigen im Himmel und an die Kräfte der Mutter Erde und daran, dass sie es nicht zulassen würden, dass irgendein Dämon von der Seele eines seiner Kinder Besitz ergreift. Nein, wenn ich diese Kräfte von Gott oder der Mutter Erde bekommen habe, dann deshalb, weil sie gut sind. Ich kann sie beherrschen und einsetzen. Natürlich muss ich mich jedes Mal fragen: Ist das jetzt gut? Aber ist das nicht so mit allem in unserem Leben, was wir sagen oder tun? Das eine ist das Werkzeug, das helfen oder vernichten kann, das andere ist unser Wesen, das entscheidet, was es mit den Kräften, die ihm gegeben sind, anfängt.«
Isaura nickte stumm. In ihrem Geist hallte noch immer ein einziges Wort nach: Hexe!
Es war einfach irrwitzig, völlig absurd. Unmöglich!
Und doch schien es plötzlich dazu zu taugen, all die Rätsel und Widersprüche zu erklären.
»Wollen Sie ernsthaft behaupten, wir seien Hexen?«, protestierte sie und starrte die Nonne an. Diese zuckte noch einmal mit den Schultern.
»Nennen Sie es, wie Sie wollen. Im Mittelalter wurden sie auch Zauberinnen oder weise Frauen genannt, wobei ursprünglich auch manche Männer die Gabe besessen haben. Doch sie ging ihnen verloren. Vielleicht waren sie zu sehr mit ihrem Kampf ums Überleben und ihren Kriegen auf den Schlachtfeldern dieser Welt beschäftigt, um sich mit den Kräften ihres Geistes zu beschäftigen, sie zu fördern und zu beherrschen.«
»Was nützt es, wenn ich diese Kraft zu zerstören beherrsche?«, wollte Isaura wissen, und Bitterkeit klang in ihrer Stimme. »Damit ich sie in voller Absicht einsetzen kann, wenn ich mal wieder eine Glasscheibe zum Zerspringen bringen möchte, um mich eines untreuen Ehemanns zu entledigen?«
Maria Anna sah sie erschrocken an. »Aber nein! Das ist doch nur ein Ausdruck unserer Kraft, der sich in unbeherrschten Momenten äußert. Die Kraft kann viel mehr! Haben Sie das noch nicht bemerkt? Versuchen Sie sich zu erinnern. Sie sehen Dinge, die noch nicht geschehen sind, nicht wahr?«
Isaura wollte dies abstreiten, doch da fiel ihr der Besuch am Krankenlager der alten Nachbarin ein. Sie hatte gesehen, dass Maria Pilar wieder gesund werden würde und dass sie noch die Geburt ihres Enkels miterleben werde.
Maria Anna, die den Gedanken mitzuverfolgen schien, nickte. »Sehen Sie!«
Isaura erzählte ihr von der Begegnung. »Ich war mir ganz sicher, dass es so sein wird, wie ich es sehe, und dann ist sie – gegen die Prognose des Arztes – wieder gesund geworden.« Sie stutzte. »Aber dann müssen Mercedes und Maria Pilar davon gewusst haben, von dieser – Gabe, oder wie man es nennen soll. Warum sonst haben sie darauf bestanden, dass ich an das vermeintliche Sterbebett kam?«
»Gewusst oder gehofft«, stimmte ihr Maria Anna zu. »Sie sahen Sie als Erbin ihrer Großtante.«
Isaura stöhnte. Natürlich! Daher diese seltsame Begrüßung und das Gerede über das Vermächtnis, das sie nicht verstanden hatte.
»Dann war Großtante Carmen also auch eine …« Sie scheute sich, das Wort Hexe auszusprechen.
»Eine weise Frau, ja«, ergänzte Maria Anna. »Eine der ganz großen, die in der Zukunft zu Hause war und auch in der Vergangenheit.«
Das war für Isaura alles ein wenig viel. Sie schüttelte den Kopf, so als hoffte sie, aus einem verwirrenden Traum zu erwachen.
»Sie denken an den Traum, den Sie in der Kapelle hatten?«, fragte die Nonne.
Was konnte sie darüber wissen? Es war geradezu unheimlich.
»Sie haben Juana am Sarg ihres Mannes gesehen und dann die Königin selbst in ihrem Grab. Sie haben sich bei dem Gewitter oben an dem Platz, an dem einst ihr Gefängnis stand, an irgendetwas erinnert, das dort einst passiert ist. Wie sollte man das sonst erklären?«
»Die dunkle Königin«, hauchte Isaura. »Juana?«
»Ja, Juana I., Tochter von Königin Isabella der Katholischen und Ferdinand von Aragon, genannt La Loca.«
»Johanna die Wahnsinnige«, wiederholte Isaura,
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