Das katholische Abenteuer - eine Provokation
abzustellen. Danach ging ich puddingweich in die Knie.
Natürlich half uns mein Vater beim Ausfüllen unserer Beichtzettel, was für ihn den praktischen Nebeneffekt hatte, dass er sich über unsere Verfehlungen auf dem Laufenden halten konnte. Allerdings haben wir schnell Überlistungstechniken entwickelt, das heißt, wir beichteten erst später im schützenden
Beichtstuhl zusätzlich alles das, was wir in der Vorbereitung mit dem Vater ausgelassen hatten. Trotz dieser kleineren Manipulationen war mir das Beichten als schönes und ernstes Ritual der Selbstbegegnung und Gewissenerforschung und Entlastung merkwürdig lieb. Tatsächlich fühlte ich mich erleichtert, wenn ich den Beichtstuhl verlassen und meine drei Vaterunser zur Buße gebetet hatte. Und so viel und schwer hatte ich nun wirklich nicht gesündigt. Das Ruchloseste war der Diebstahl von zehn Pfennig aus Mutters Portemonnaie, die in Kaugummi umgesetzt wurden, also streng genommen straffreier Mundraub. Oder?
Heutzutage gibt es Beichtzimmer. Man sitzt sich gegenüber und führt ein Gespräch. Aber ich will meinem Beichtvater nicht ins Gesicht schauen. Ich will meine Last loswerden, durchs Holzgitter, ich will die Stimme hören und in mich hineinschauen, ich will die Ohrenbeichte.
Der Katholizismus damals, in den frühen 60er Jahren, war eine machtvolle und allumfassende Lebenswelt. Katholisch war überall. Die Christmetten feierten wir im Skiurlaub in dem kleinen Tiroler Kaff Fiss, das heute eine mondäne alpine Wellness- und Pistenlandschaft ist. Damals hingegen: ein paar Dutzend Familien, im Stall beim Bauern das Krippenspiel, und in der ungeheizten Dorfkirche war das Weihwasser im Becken gefroren.
Die Spaziergänge führten an unzähligen Wegrandkreuzen vorbei. Unsere Wanderungen waren religiöses Trainspotting, nur dass die Kreuze feststanden und wir uns bewegten. Die Regel war, dass Christus unter einem kleinen Bretterdächlein hing, die Mutter Gottes dagegen in ummauerten Vitrinen stand, was meine Zustimmung fand – schöne Frauen sollten es besser haben.
Jesuiten-Pater Leppich, das »Maschinengewehr Gottes«, ging bei uns ein und aus. Der Mann füllte mit seinen Predigten in jenen Jahren Fußballstadien. Mein Vater predigte ebenfalls gern, auch als Politiker. In Oberhausen war er, als CDU-Mitglied,
unter der legendären SPD-Bürgermeisterin Luise Albertz Stadtrat für Familie, Gesundheit und Soziales. Er war also der Verantwortliche für »Gedöns«, würde Gerhard Schröder sagen. Doch das Gedöns war in den 50er Jahren ein Kernressort. So viel Familienpolitik war nie, und mein Vater war Aktivist.
Der Vater
Er war, was die soziale Frage anging, eindeutig im linken Flügel der CDU angesiedelt, und er lebte die christliche Soziallehre tatsächlich konkret. Häufig saßen Gäste aus dem »Lager Zementwerk«, einer städtischen Obdachloseneinrichtung, bei uns am Mittagstisch. Allerdings hatte die Sache für sie ihren Preis. Sie mussten ein längeres Tischgebet und eine regelrechte Predigt über sich ergehen lassen, aber mein Vater war in ihren Augen absolut einer der Ihren, seit er mal eine Nacht dort bei ihnen im Lager in einem Doppelstockbett geschlafen hatte. Die Schuhe, so hatten ihm Veteranen erklärt, band man an den Pfosten fest, damit sie nicht geklaut würden. Mein Vater brachte uns Kindern vor allem bei, keinen Dünkel zu haben.
Ich denke mit Liebe und Respekt an meinen Vater zurück. Oh ja, er war streng, bisweilen sogar jähzornig, es gab tatsächlich auch Hiebe auf den Allerwertesten, wenn wir was angestellt hatten, und das kam bei fünf Jungen oft vor. Er kannte es nicht besser, kannte es nicht anders, wie er mir einige Zeit vor seinem Tod gestand. Es tat ihm aus tiefstem Herzen leid. Ich habe ihm verziehen. Auch er war nach dieser Maxime erzogen worden: »Vater schon die Rute nicht, sonst wird dein Kind ein Bösewicht.« Heute nennt man das Misshandlung.
Mein Vater. Seine Jugend war die eines armen Schneiderkindes unter sieben weiteren Geschwistern im Berlin der 20er Jahre. Natürlich waren er und seine Brüder in der Pfarrjugend von St. Ansgar in der Altonaer Straße aktiv. Eine große Gemeinde mit rund 20 000 Gläubigen. Unter seinen Hinterlassenschaften
habe ich in einer alten Aktentasche Belege aus dem Gemeindeleben gefunden, Vorträge, die er als Halbwüchsiger gehalten hat, auch Pfarrmitteilungen über Rosenkranznachmittage und liturgische Kalendernotizen. Da sind beschwörende Appelle wie der aus dem Jahre 1938, das
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