Das katholische Abenteuer - eine Provokation
Sätze wie »Was das Leben des Glaubens müde macht, ist das beständige Hören und Sagen und Lesen der heiligen Worte. Darin werden sie staubig und alt; so muß der, dem an ihnen liegt, sie immer wieder blank und neu machen.«
Das waren notwendige Sätze in Zeiten der Katechismus-Sicherheit und Glaubensfülle. Heute geht es vielleicht doch eher wieder um das beständige Hören und Einprägen und neu Lernen.
Die Internatswelt
Als in den frühen 60er Jahren die ersten Hammerschläge hörbar wurden, die ersten Abbrucharbeiten an einer Epoche, tauchte ich noch einmal zurück und ein in die Welt eines Jesuiteninternates, die der alten Ordnung verpflichtet war. Diplomaten und Politiker und Grafen schickten ihre Kinder hierher, um sie schleifen zu lassen, oder auch einfach, um sie sich vom Halse zu schaffen. Oft zum Glück der Kinder.
Das hieß: Schlafsäle mit vierzig Jungen, Batterien von Waschbecken auf dem Flur, aus denen nur kaltes Wasser kam, und vor
dem Frühstück wurden die Messdienste für die Kapellen der Krypta verteilt. Vom Zweiten Vatikanischen Konzil bekam ich hier nichts mit, die Messe wurde weiterhin auf Latein gehalten.
Jeden Morgen hatten wir vier Kapellen in der Krypta zu bespielen. Wir rissen uns um den Messdienst bei Pater Peireira, der schon alt war, aber ein enormes Tempo vorlegen konnte. Mittlerweile hatten auch wir die lateinischen Gebete im häufigen Gebrauch abgeschliffen wie Ziegelsteine, sodass das Stufengebet (»Introibo ad altare Dei, ad Deum qui laetificat juventutem meam«) etwa so klang: »Introibodalta quiklaeficatuemeam … pohahhhhh«. Das pohahhh war lautlos, aber es war – strukturell – das Geräusch eines Hundertmetersprinters nach dem Zieleinlauf. Natürlich gab es viele profane Momente, selbst mit Kutte, übrigens auch für Pater Peireira, der im Sommer öfter mit seiner Stola nach brummenden Fliegen zielte, die über dem Kelch mit dem süßen Wein die heilige Andacht stören wollten.
Unsere Kutten waren entweder rot oder schwarz. Über sie wurde ein weißes Leinenhemd geworfen, das an den Ärmelstulpen und am Rocksaum aus Spitze bestand. Es war weder männlich noch weiblich, sondern anders. Ich war Messdiener, bis ich vierzehn Jahre alt war. In meiner Erinnerung war der Messdienst immer eine Mischung aus heiligem Ernst und Pflichterfüllung und Lust an der Kostümierung und am Schauspiel. Er war eben das Andere.
Es gab in meinem Leben damals Fußball und Lernen und Prügeleien und Reisen und dann eben dieses Andere, diesen heiligen Bezirk, den ich als Messdiener mit erhöhter Wachsamkeit und Andacht betrat. Und als mein Sohn Messdiener wurde, glaubte ich, diese erhöhte Wachsamkeit für das Andere auch in seinem Gesicht lesen zu können.
Doch zurück in meine eigene religiöse Education sentimentale. Wir lernten, »Großer Gott, wir loben dich« so laut zu singen, dass es Gott auf alle Fälle hören konnte. Wir trieben Sport bis zum Umfallen, vor allem, als wir in die Pubertät kamen. Da
wurde kalt geduscht. Wir lasen viel, wir studierten in Stille an einer langen Reihe von Pulten, und unter meinem Pultdeckel hatte ich trotz aller jesuitischen Abhärtungsversuche ein Foto von Vivi Bach kleben, das einen Ansatz von Dekolleté zeigte. Meine erste große Liebe.
Nie in meinen Jahren im Aloisiuskolleg war ich Zeuge irgendwelcher sexuellen Übergriffe seitens der Patres, geschweige denn selber Opfer. Als ich nun kürzlich von einem ehemaligen Ako-Schüler informiert wurde, dass ein Schuldirektor, lange nach meiner Zeit, Schüler nicht nur fotografiert, sondern auch sexuell behelligt haben soll, mochte ich das zunächst nicht glauben, denn es widersprach völlig meinem eigenen Erleben. Doch es war so. Der Schuldirektor war ganz offensichtlich ein kranker Mann, der seine Neigungen nicht kontrollieren konnte. Er war der falsche Mann in der falschen Institution mit der falschen Funktion. Das gibt es.
Das gibt es nicht nur in der katholischen Kirche. Die hat Schuld auf sich geladen, weil sie aus falsch verstandener Loyalität geschwiegen und Problemfälle lediglich versetzt hat, statt sie ganz aus dem Verkehr zu ziehen. Doch nun tut sie, Gott sei Dank, alles, um den Opfern zu helfen und nachträglich Genugtuung zu geben, allem voran: sich zu verneigen und um Verzeihung zu bitten.
Von all dem wusste ich, ahnte ich damals nichts. Meine Welt war eine andere. Ich war tief erschüttert von Pier Pasolinis Film Das 1. Evangelium – Matthäus und wollte diesem wilden und langlockigen
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