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Das katholische Abenteuer - eine Provokation

Das katholische Abenteuer - eine Provokation

Titel: Das katholische Abenteuer - eine Provokation Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Deutsche Verlags-Anstalt
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Wüste von wildem Honig lebte. Also organisierte ich mir mit meinem jüngeren Bruder ein Glas Blütenhonig aus dem Küchenschrank, dann setzten wir uns konspirativ in unsere »Laubhütte«, die wir mit ein paar Blätterzweigen im Sandkasten markiert hatten. Die Heuschrecken ließen wir aus. Ich hatte das Gefühl, ich müsse etwas Bedeutendes, etwas Aufrüttelndes verkünden, aber mir fiel nichts ein, was sich auch nur entfernt anhörte wie: »Es wird aber einer nach mir kommen …« oder »Kehret um...«. Wir brachen den Versuch dann vorzeitig ab, weil man uns und das Honigglas entdeckte und uns wie gewöhnliche Kriminelle behandelte. Unschön.
    Unsere Kindheit war gleichzeitig frommer Hokuspokus und von hoher religiöser Innigkeit, sie bot eine lebenslustige katholische Sinn-Folklore. Meine Seele war eine dramatisch beleuchtete barocke Landschaft, die aus Sonne und Wolken bestand, dem lieben Gott und gerüsteten Erzengeln mit Flammenschwertern und eben den Heiligen mit ihren abenteuerlichen Lebensläufen, die schon Goethe faszinierten. »Man möchte doch wohl gut heißen, daß es so viele Heilige gibt«, schrieb er.

    Der Katholizismus, mit dem ich groß wurde, war in eine faszinierende Formensprache gehüllt. Heute ringt er um Form und Fassung. Und er versucht zaghaft wieder, die alten Quellen anzugraben, weil er spürt, dass die Form auch gleichzeitig Inhalt ist und Riten ihre eigene innere Wahrheit haben. Ich glaube, dass Martin Mosebach recht hat mit seiner Warnung vor einer »Häresie der Formlosigkeit«. Der Katholizismus besitzt in seiner gewordenen Formensprache ein grandioses kulturelles Gedächtnis, und bei allen notwendigen Reformen des Zweiten Vatikanischen Konzils kann es für mich keinen Zweifel geben, dass es in der Zeit danach in der Zertrümmerung der Form zu weit gegangen ist. Dass der Heilige Vater die tridentinische Messe nun wieder zulässt, halte ich für eine wichtige Korrektur, da sie das Bekenntnis zu einer kirchengeschichtlichen Kontinuität enthält.
    Bei dieser Gelegenheit: »Heiliger Vater« – was ist das allein für eine wunderbare Anrede in einer vaterlosen Gesellschaft, wie altmodisch würdevoll auf diesem ordinären Rummelplatz, auf dem wir heute unser Leben einrichten.
    Messdiener sein, das war mein erster Berufswunsch. Meine älteren Brüder waren Messdiener, da wollte ich hin. Raus aus der Bank, hinein in den Altarraum, hinauf auf die Altarstufen, dorthin, wo das Allerheiligste ist, das Geheimnis schlechthin. Ich wollte mitwirken, auf welche Art auch immer. Bis es so weit war, übte ich, damals, in den späten 50er Jahren. Meine Mutter hatte uns Kutten genäht, in denen spielten wir Messe, mein jüngerer Bruder und ich. Einer der älteren machte den Priester. Wir sprachen die Stufengebete auf Lateinisch, und derjenige, der den Priester darstellte, beschränkte sich auf effektvolles Murmeln, während er sich über das Gesangsbuch beugte, denn er hatte ganz sicher kein römisches Missale.

    Es war die Zeit vor dem Zweiten Vatikanum, die Priester wandten den Messdienern und der Gemeinde den Rücken zu, und alle schauten hin zum Tabernakel, der im Hochaltar untergebracht war. Wie geheimnisvoll und wie heilig das war. Messdiener zu sein bedeutete, teilzuhaben, viel näher, als es von der Bank aus möglich war. Ich konnte die lateinischen Stufengebete – die man so nannte, weil sie zu Beginn der Messe mit dem Priester kniend auf den Altarstufen gesprochen wurden – schnell auswendig, konnte sie wie im Schlaf, denn ich hatte genug Gelegenheit, sie zu üben. Messdiener zu sein war abenteuerlich und gefährlich: Während eines Hochamtes durfte ich, zum ersten Mal, das Weihrauchfass schwenken. Ich war stolz. Weihrauchschwenken ist die womöglich älteste und heiligste aller sakralen Verrichtungen, ganz sicher älter als das Christentum. Es hat mit Schauer und frühgeschichtlicher Ergriffenheit und Ekstasetechnik zu tun. Das Weihrauchfass hing schwer und silbern an den drei Kettenführungen, die in einem Griffring rund einen Meter oberhalb des durchbrochenen Deckels endeten. Aus dem silbernen Deckel stiegen mit jedem Schwenken zarte weiße Wolken auf, hinauf zu Gott. Vorbei an meiner Nase. Ich nehme an, dass dies der Moment war, in dem ich zum ersten Mal mit einem Zustand von Trance und Bewusstseinsveränderung zu tun hatte, was einst sicher der Sinn von Weihrauch war. Augenzeugen berichten, wie ich kalkweiß wurde, aber noch die (schwindende) Konzentration besessen hatte, das Fass

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