Das katholische Abenteuer - eine Provokation
Weihnachtsfest nicht als Marzipan- und Geschenke-Orgie zu verstehen, sondern als den tatsächlich »dramatischen Einbruch in die Geschichte«. Dann das trotzige Bekenntnis: »Diese Weihnacht kann uns niemand rauben«, kein Nazi-Blockwart, kein Parteiaufmarsch.
Dramatische Zeiten. Mein Vater und seine Brüder lieferten sich Saalschlachten mit der Hitlerjugend. Sie verachteten sie. Und die Schwestern hatten Angst, besonders, als die jüdische Nachbarfamilie abgeholt wurde. Sie hörten die Schreie ihrer Spielgefährtinnen, nächtelang weinten sie. Wo war Gott in diesen Zeiten? Die Kirche bot Halt, sie bot einen religiösen Alltag in finsterer, gottferner, bestialisierter Zeit, sie bot der Seele Raum.
Die Mutter war früh gestorben. Mein Vater hatte ihr vor ihrem Tod das Versprechen gegeben, Priester zu werden, und er schien sich schon früh auf eine Karriere als Prediger und Zeitkritiker vorbereitet zu haben. Ich habe einen in Sütterlin abgefassten Aufsatz vor mir, in dem er zwei Frauenfiguren miteinander vergleicht: Die heilige Maria Ward, die englische Ordensgründerin aus der Zeit des Dreißigjährigen Krieges, und die Filmdiva Zarah Leander. Er spricht in dieser Arbeit von Menschen, denen »das Leben mehr bedeutet als Essen, Trinken und Schlafen, und mehr als Ruhmhascherei und Ehrgeizbefriedigung, denen vielmehr das Leben die Erfüllung einer Sendung vorschreibt«. Er hat darin sein eigenes Lebensprogramm niedergelegt, und das hat er versucht, mit wechselndem Erfolg, an seine Söhne weiterzutragen.
Ja, er war streng. Aber er las auch vor, liebte Streitgespräche. Er war der Mannschaftskapitän beim Fußballspiel gegen die weitverzweigte Verwandtschaft. Er lief mit uns im nahen Stadtpark. Er ging morgens mit uns in die Badeanstalt. Im Sommer
begaben wir uns auf ausgedehnte Radtouren, im Winter wurde Ski gefahren. Sport war Teil der Erziehung von frühster Kindheit an.
Das und Bücher. Wir liehen in der Stadtbücherei alles aus, was im weitesten Sinne als pädagogisch einwandfrei durchgehen konnte, das waren die Fünf-Freunde -Romane von Enid Blyton, das konnte auch Karl May sein, den er selber als Junge gelesen hatte und der voll auf der Linie lag, denn irgendwann in Winnetou III lernt die edle Rothaut, dass es neben dem Großen Manitou noch einen Größeren gibt.
Mit seinem Willen zur Volkserziehung trieb er es weit. Er rief die Aktion »Wertvolles Buch« ins Leben, in der man die »bunten Heftchen« eintauschen konnte gegen richtige Bücher, also McDonald’s gegen eine richtige Mahlzeit. Unser katholischer Kosmos war so einfach und farbig wie ein Katechismus-bildchen, es gab den verdammt schmalen Pfad der Tugend, der sich steinig himmelwärts wand, und es gab die breiten Autobahnen in die Hölle, den Highway to Hell, den ich mir für später auf hob.
Himmel und Hölle und das Fegefeuer, das waren unsere Fantasy-Welten. Wer hätte gedacht, dass es diese ein paar Jahrzehnte später im Computer geben würde, mit edlen und durchaus heiligen Helden in Rennaissance-Spielen wie »Assassin’s Creed«, mit Geschwadern an Drachen und geschupptem Höllengewürm wie aus Bildern von Hieronymus Bosch.
Ich glaube mit Safranski, dass die religiöse Vorstellungskraft in einem ungeheuren Maße von den Ersatzreligionen der Fantasy-Welten geschwächt wird, weit mehr, als wir es uns überhaupt vorstellen können. Unser metaphysisches Talent nimmt ab, weil das »Bewohnen virtuell anderer Räume so ein trivialer Massensport« geworden ist. Wir, besonders aber unsere Kinder, sind mittlerweile anthropologisch umgebaut. Wir leben in einem Schwebezustand zwischen Realität und künstlich erzeugten Bildern. Wir sind gleichzeitig weit mehr ins Fantastische hinausgelehnt und weit weniger in
den Himmel. Wir sind abergläubischer, aber weit weniger glaubensfähig.
Die 50er Jahre und die frühen Sechziger gründeten in einer Glaubenswelt, die sich mit dem allergrößten Selbstbewusstsein auf Traditionen berief. Namen, die bei uns zu Hause fielen, waren Karl Rahner, Luise Rinser, Romano Guardini. Der Letztere war den Nazis und ihren Mythisierungsversuchen des Christentums mit der Schrift Der Heiland mutig entgegengetreten, während Luise Rinsers Widerstandsvita, wie sich jetzt herausstellte, doch eher ein nachträgliches Konstrukt war.
Romano Guardini wurde uns oft vorgelesen. Immer wieder forderte er, das Christentum zu leben, es praktisch werden zu lassen. Er war unter den Vorbereitern des Zweiten Vatikanischen Konzils. Er schrieb
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