Das katholische Abenteuer - eine Provokation
und zornigen und sanften Jesus nacheifern, ja ich wollte für ihn sterben. Wenigstens als Missionar. Wenigstens in einem gefährlichen Land. In Afrika oder im Dschungel.
Was das Missionieren angeht: Ich kann nicht ausschließen, dass das Interesse daran sich hielt. Nur nannte man es einige Jahre später »Agitieren«. Und wieder ein paar Jahre später engagierten Journalismus.
Natürlich drangen auch ins Internat die Sirenengesänge der neuen Zeiten, die Disharmonien des Epochenbruchs, die sich
eigentlich erst mal in Engelschören in Dur ankündigten, den Beatles oder den Beach Boys, und in der Aula gab es einen Auftritt der unbotmäßig langhaarigen Internatsband, die »Wild Thing« von den Troggs spielten, und bei »You make my heart sing« war die Show vorbei, weil einer der Patres den Stecker aus dem Verstärker gezogen hatte. Immerhin wurde so deutlich, dass hier zwei Welten miteinander rangen und die interessantere der beiden nur mit Brachialgewalt und wohl auch nur vorläufig am Sieg gehindert werden konnte.
Während draußen Oswalt Kolles Softpornos aufgeregt die Aufklärung in deutsche Schlafzimmer brachten und sich das Bahn brach, was man die »sexuelle Befreiung« nannte, wurden wir im Internat behutsam auf die Mysterien der Liebe vorbereitet. In Form von Exerzitien, die ich als ungewollt komisch erlebte, eine dreitägige Schweigephase, in der wir mit Vorträgen und Gebeten auf die Geschlechtlichkeit vorbereitet wurden, mit Geschichten von Bienen und Blüten und den Eltern, die sich sehr lieb haben, aber anders als uns. Dann wurde gebetet. Im Ernst.
Aber da war es eigentlich auch schon zu spät, denn mittlerweile waren bei uns im Schlafsaal Hefte mit halbnackten Frauen konfisziert worden, die von den Externen erworben worden waren, und die Patres dachten, es sei an der Zeit, ein paar Worte über den respektvollen Umgang mit der Sexualität zu verlieren. Im Nachhinein finde ich diese Anstrengung ehrenwert. Es wurde sehr viel über Liebe gesprochen und eher weniger über Körperfunktionen, aber das war völlig in Ordnung. Es wäre prima, wenn auch heute mehr über Liebe gesprochen würde als über »Shoppen und Ficken«, wie es ein bekanntes Theaterstück schon im Titel auf den Punkt bringt.
Die Internatszeit war eine glückliche Zeit. Sie war erfüllt von Gemeinschaftserlebnissen und Rudelkämpfen, von Pauken und neugierigem Lernen und musischen Olympiaden und Theateraufführungen, von Geländeläufen und griechischen Dramen und Zeichenwettbewerben in der »Stella«, einem kleinen Schlösschen oberhalb der Sportplätze.
Doch plötzlich wusste ich, dass ich nicht mehr dazugehöre. Ich fiel aus der Ordnung, weil ich bei meinen Heimatbesuchen in den Ferien mitbekam, dass draußen etwas im Gang war, das ich nicht verpassen wollte. 1967 kehrte ich dem Internat den Rücken. Ich verließ eine für mich heile Welt, die nur einen tragischen Tiefpunkt erlebte: Die Niederlage von Wembley war lange nicht aus meinem Gemüt zu tilgen. Gab es Gott?
Wilde Jahre
Mein Vater war Bürgermeister in Stuttgart, wo er seinem Hang zum Predigen bei jeder zweiten politischen Grundsatzrede nachgehen konnte. Ich muss in diesen Tagen oft an ihn denken, wenn ich die Schlichtungsgespräche im Stuttgarter Rathaus um das Bahnprojekt 21 verfolge. Er wäre auf der Seite der Gegner gewesen. Was hat er getobt über die banale Kaputtmodernisierung Stuttgarts in den 60er Jahren, als das Ziel die »autogerechte Stadt« hieß. Alles war damals den Bedürfnissen des Sindelfinger Autokonzerns Daimler-Benz untergeordnet.
Mein Vater war ein früher Grüner. Er warb fürs Fahrradfahren. Er plädierte fürs klassenlose Krankenhaus. Er war ein Überzeugungstäter. Mein Gott, er zitierte Lenin in seinen Reden! Klar, dass er sich nicht halten konnte in der Stadt der Auto-Lobbyisten. Wir diskutierten. Wir veranstalteten Schriftlesungen im Kreise der Familie, abends, in denen mein Vater von Martin Buber über Romano Guardini bis Marx oder Dostojewski alles vortrug, was kontrovers klang und was die Seele beschäftigen und zur Diskussion reizen könnte.
Meinem Kinderglauben war ich längst entwachsen, doch nicht dem Interesse an einer anderen Welt. Das blieb. In unserer Kirche in Stuttgart hatte das Zweite Vatikanische Konzil ganze Arbeit geleistet. Sie war weitgehend schmucklos. Der Hochaltar verschwunden, der Marmor-Messtisch ein archaischer Opferblock. Der Priester verrichtete die heiligen Handlungen
der Gemeinde zugewandt. Die Predigten
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