Das Kind, Das Nicht Fragte
sehr enttäuschen, nein, das geht wirklich
nicht, denke ich. Also gehe ich langsam und mit leichtem innerem Widerwillen hinter ihr her. Wir betreten einen weiten, offenen Flur, von dem aus eine breite Treppe in den ersten Stock führt, dort befindet sich ihre Wohnung. Als wir vor der Wohnungstür stehen und sie dabei ist, die Tür aufzuschließen, sagt sie:
– Du bekommst auch einen Schlüssel. Du und ich – nur wir beide werden diese Wohnung betreten, meine Eltern haben mir versprochen, nicht hierherzukommen.
Es ist ihr völlig gleichgültig, dass Du verlobt bist, denke ich, sie will damit auch nicht konkurrieren, sondern sie will etwas ganz anderes von Dir. Sie möchte alle paar Tage mit Dir schlafen und einen Elementarkurs mit dem Thema Subtilitäten des Beischlafs belegen, Theorie und Praxis eng miteinander verbunden. Sie wird Dich zu bestimmten Stunden hierherbestellen und alles vorbereiten: gut gekühlte Getränke, Meeresplatten auf Eis, Austern und Muscheln in bester Fangqualität – wahrscheinlich hat sie längst Bücher darüber gelesen, wie die großen Frauenhelden sich vor ihren Praktika in Form brachten (von Austern zum Beispiel ist bei diesem Thema doch immer wieder die Rede, war das nicht so? Casanova und Austern – ja, davon hast Du selbst doch einmal gelesen).
Ich folge ihr noch eine Spur langsamer als zuvor, die Wohnung ist noch voller Umzugskartons, die an den Wänden entlangstehen wie düstere Wärter, die unser Tun feindselig und stumm beobachten. Wie ich erwartet hatte, handelt es sich nicht um zwei oder drei kleine
Zimmer, sondern um eine große Wohnung, die über das gesamte Stockwerk geht. Vom Wohnzimmer aus hat man einen schönen Blick auf die Stadt und das Meer, eine offene Küche schließt sich nach hinten, zum Garten hin, an.
Adriana verschwindet in das Schlafzimmer, ich höre, dass sie sich umzieht, und als sie wieder erscheint und im Eisschrank nach einer weiteren Flasche Wein sucht, trägt sie ein buntes Sporthemd und kurze Sporthosen in Dunkelblau. Sie öffnet die Flasche und stellt zwei leere Gläser daneben, dann eilt sie zu einem CD-Player und lässt erneut Ray Charles laufen, wollen wir tanzen? fragt sie und steht da mit geschlossenen Augen, hin und her wippend, als sollte ich nun auf sie zugehen, damit sie mich umschlingt und nicht mehr loslässt für die Dauer der Nacht.
Ich kann und ich mag nicht tanzen, könnte ich sagen, und es entspräche sogar der Wahrheit. Natürlich würde ich es hinbringen, mit ihr ein wenig zu tanzen, aber ich mag Tanzen nicht und habe es mit den Jahren auch vollkommen verlernt. Tanze ich, kommt es mir immer so vor, als sähe ich mir selbst dabei zu, es gibt kaum Peinlicheres, als so etwas zu sehen, es wirkt – wie soll ich es nennen? –, es wirkt ganz und gar krampfhaft , als versuchte man, sich selbst loszuwerden, zerrte aber nur an der Kleidung, anstatt gleich die Haut abzustreifen.
Meine Lage ist also kompliziert, ich möchte gehen, kann es aber nicht, ohne sie schwer zu enttäuschen. Ihr Angebot
ehrt mich, sie hat mich unter vielen Männern ausgesucht und viel Fantasie und Einfühlungsvermögen aufgeboten, damit alles stimmt: die Szene, der Raum, die Atmosphäre. Sie ahnt, dass ich jetzt nicht den Moralbesessenen spiele und von Paula und meiner Verlobung spreche – und sie hat recht, ich werde diese Themen mit keinem Wort erwähnen, denn sie passen einfach nicht hierher. Andererseits steht aber auch fest, dass ich ihr Angebot auf keinen Fall annehmen kann, ich eigne mich für solche Vergnügungen nicht, und ich tue nicht gern etwas auf Bestellung. Wie also weiter? Was soll ich tun?
In meiner Hilflosigkeit verschwinde ich für einen Moment auf die Toilette. Als ich in den Spiegel schaue, komme ich mir jünger und frischer vor als zuletzt. Du siehst richtig gut aus , denke ich und grüble kurz darüber nach, wieso ich mich so positiv verändert habe. Natürlich, meine Haut ist tiefbraun, und meine Haare sind vollkommen blond, ich habe viel geschwommen in letzter Zeit, deshalb bin ich schlanker und wirke gesünder – so lautet die Kurzdiagnose. Ich ziehe mein Jackett aus, um mir mit beiden Händen das Gesicht zu waschen, da fällt mein Handy aus einer Jacketttasche auf den blauen Kachelboden und schliddert gegen die untere Duschleiste. Ich sehe, dass es aufleuchtet, irgendeine Nummer wurde anscheinend aktiviert, wie geht so etwas? frage ich mich noch, als ich Martins Stimme höre, die sich im frisch gestrichenen Raum des
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