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Das Kind, Das Nicht Fragte

Das Kind, Das Nicht Fragte

Titel: Das Kind, Das Nicht Fragte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanns-Josef Ortheil
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Badezimmers wie die Stimme eines klobigen Bademeisters anhört:
    – Was gibt’s, Benjamin? Es ist spät.

    Als ich das höre, kommt mir sofort ein Gedanke. Ich greife rasch nach dem Handy und flüstere:
    – Martin, frag jetzt nicht lange! Ruf mich bitte in genau zwei Minuten an, und nimm nicht ernst, was ich dann sage, hörst Du? Halte einmal im Leben den Mund und tue einmal, was ich Dir sage, anstatt gleich wieder den Obercowboy zu spielen. Ist das klar?
    – Herrgott, ja, was ist denn bloß los? antwortet er.
    – Ich bin in einer Notlage, die Details sind nicht wichtig. Tu einfach, was ich Dir gesagt habe.
    – Ja doch, Dein Ton gefällt mir aber überhaupt nicht.
    – An den wirst Du Dich gewöhnen müssen, Brüderchen, sage ich noch und beende dann das Gespräch.

    Ich trockne mein Gesicht mit einem Handtuch ab, ziehe das Jackett wieder über und gehe zurück in das Wohnzimmer. Adriana hat den Wein in die beiden Gläser geschenkt und steht jetzt beinahe in der Mitte des Raums, wieder mit geschlossenen Augen, sich weiter hin und her wiegend, als tanzte sie längst mit Ray Charles. Ich tue nichts, ich schaue ihr einfach zu, es ist ein schönes, stimmiges Bild, ohne Kitsch: eine junge Frau, die den Wohnraum um sie herum langsam belebt, indem sie mit diesem Raum tanzt, selbstvergessen und durchaus guter Laune. Ist sie überhaupt noch betrunken? frage ich mich und vermute, dass die neue Umgebung ihr wieder mehr Fassung verliehen hat. Im Hafen war sie müde und ließ sich gehen, jetzt ist sie wieder hellwach und etwas aufgeregt, denke ich weiter. Da klingelt mein Handy:
    – Benjamin, ich bin’s wieder, Martin. Was ist denn nun los?
    – Alberto? Du bist’s? Es ist spät, was gibt es?
    – Benjamin, hier ist Martin und kein Alberto.
    – Ich verstehe, Alberto, Du brauchst nicht so laut zu sprechen.
    – Benjamin, hier ist nicht Alberto, verdammt noch einmal!
    – Sprich etwas leiser, Alberto, dann verstehe ich Dich besser. Was ist passiert? Mein Gott, nein, ach mein Gott! Ich habe Dir immer gesagt, Du sollst nicht so viel rauchen. Und dann der Wein, jeden Abend mindestens eine Flasche. Ja, Alberto, ich verstehe. Nein, ich mache Dir keine Vorwürfe. Ich komme, so schnell ich kann.
    – Benjamin, spinnst Du? Was ist denn bloß los?
    – Ich bin in Deiner Nähe, Alberto, in zehn Minuten bin ich bei Dir, und wir sehen weiter. Nein, ich kenne mich nicht aus in medizinischen Dingen, aber ich habe einen Bruder in Köln, der sich auskennt.
    – Benjamin, worin genau soll ich mich auskennen?
    – Ja, dieser Bruder heißt Martin, ich habe einmal von ihm gesprochen. Als Arzt ist er nicht gerade eine Leuchte, aber eine kleine Herzdiagnose bekommt er hin.
    – Benjamin, hast Du getrunken?!
    – Nein, ich bin fit, Alberto, nein, ich habe nichts getrunken, jedenfalls nichts, was der Rede wert wäre. Ich eile jetzt zu Dir, in zehn Minuten sehen wir uns. Ciao, ciao!

    Adriana hat ihre Tanzbewegungen nicht unterbrochen. Ich gehe auf sie zu, umarme sie und gebe ihr erneut einen Kuss auf die Stirn. Sie öffnet die Augen und lächelt.
    – Das hast Du gut hinbekommen, sagt sie.
    – Was meinst Du? frage ich.
    – Na, dass Alberto Dich gerade jetzt anruft!
    – Es geht ihm nicht gut, Adriana.
    – Es geht ihm sehr gut, Benjamin. Er hat Dich angerufen, um Dich hier rauszuholen, stimmt’s?

    Ich zögere einen kurzen Moment, dann gebe ich auf:
    – Ja, Adriana, das stimmt. Du erwartest zu viel von mir, und Du erwartest es viel zu schnell. Die Umzugskisten sind nicht einmal ausgepackt, die ganze Wohnung lebt noch nicht richtig, und da sollen wir Hals über Kopf miteinander schlafen?
    – Ich hätte es prickelnd gefunden, gerade wegen der Umzugskisten.
    – Nein, Adriana, Du machst Dir was vor. Ich gehe jetzt, und wir reden später einmal darüber.
    – Na gut. Aber den Schlüssel zur Wohnung, den nimmst Du mit, oder?
    – Ja, den nehme ich mit.
    – In Ordnung. Dann machen wir es so.
    – Ja, so machen wir es.
    – Gib mir bitte noch einen Kuss, aber einen richtigen, auf den Mund, nicht auf die Stirn.

    Ich überlege keinen Moment, sondern küsse sie auf den Mund. Wir küssen uns lange, und ich kenne plötzlich die Rolle, die ich nun spiele, es ist eine Rolle in einem Film über Ray Charles. Der lange Kuss ist wie ein Teil seiner Musik, er passt genau, und später wird Ray Charles aus diesem Kuss einen neuen Song entwickeln, und im Handumdrehen wird dieser Song die Charts erobern und stürmen. (Habe ich von Ray Charles nicht einmal einen

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