Das Kind, Das Nicht Fragte
zu, als wäre ein Verfolger hinter mir her. Ich ziehe den Schlüssel ab und lege ihn auf meinen Arbeitstisch. Die Farbe des Meeres hat sich seit dem frühen Nachmittag stark verändert. Es schimmert jetzt an vielen Stellen dunkelblau, als wären hier und da dicke Tintenblasen aufgebrochen oder als hätte ein gewaltiger Fisch sein Revier markiert.
Ich spüre Durst und einen starken Hunger, weiß aber gleich, dass ich nicht mehr nach draußen gehen werde. Mein Versuch, irgendwo einen passenden Wohlfühl-Unterschlupf oder zumindest eine erste Anlaufstation zu finden, ist gescheitert. Ich werde an diesem Abend nur noch Leitungswasser mit Zitronensirup trinken, und ich werde irgendeinen langweiligen Forschungsbericht lesen, um möglichst schnell einzuschlafen und nichts mehr zu hören oder zu sehen.
8
E INIGE TAGE später fühle ich mich wieder besser und habe auch erste Erfolge im Rahmen meiner Forschungen zu verzeichnen. Ich habe mir angewöhnt, jeden Morgen gegen sechs Uhr aufzustehen und gegen sieben Uhr unten im Frühstücksraum der Pension zu erscheinen. Der
Raum ist groß und quadratisch und besteht jetzt, im warmen Frühjahr, aus dem luftigen Innenhof des Gebäudes, in den schon früh am Morgen das sonnige Himmelslicht einfällt. An seinen Rändern stehen schwere Terracotta-Kübel mit Oleanderbüschen und Lorbeer, so dass man sich in einen kleinen Garten versetzt fühlt. Während ich frühstücke, toben über mir immer wieder die Schwalben, doch wenn ich den Kopf hebe und ins Helle schaue, sind sie verschwunden, als räumten sie das Bild immer wieder blitzartig für meinen Blick frei.
An jedem Morgen bin ich zunächst der einzige Frühstücksgast, die anderen Gäste stehen anscheinend viel später auf, weil sie die Nächte meist unten am Meer verbringen und erst spät zu Bett gehen. Meine blonde Wirtin erzählt von den nächtlichen Gelagen ihrer Gäste mit leichtem Spott. Die Deutschen , sagt sie , wissen einfach nicht, wann es auch einmal genug ist, immer müssen sie noch eins draufsetzen, immer noch eine zweite und dritte Flasche, und am nächsten Morgen stöhnen sie unsereinem, der nie mehr als zwei Gläser trinkt, dann etwas vor.
Wenn ich Platz genommen habe, nähert sie sich meinem Tisch wenig später mit einem kleinen Rollwagen, auf dem alles bereitsteht, was sie mir zum Frühstück auftischen will. Jeden Morgen trägt sie dasselbe ärmellose, weiße Kleid und dazu eine schwere Kette mit roten, handgedrechselt erscheinenden Steinen. Die Haare hat sie zu einem mächtigen, schweren Zopf geflochten, der auf ihrem kräftigen Rücken wie ein Pendel hin und her schlägt. Sie stellt den Rollwagen neben meinem Tisch ab
und redet weiter: Sie sind anders, Sie wissen sich zu beherrschen. Ich habe mir gleich so etwas gedacht, als ich sah, wie Sie Ihre Zimmer ummöbliert hatten.
Ich sage nichts, ich lasse sie erzählen, am frühen Morgen hat sie einen starken Rededrang, der aber nicht aufdringlich ist, weil sie mich mit Fragen aller Art verschont. Sie stellt kleine Schälchen mit Birnen, Äpfeln und Aprikosen vor mich hin, und sie spricht dabei einfach weiter, als gehörte ich am frühen Morgen ganz selbstverständlich unter diese sanfte Wortdusche, die mich minutenlang massiert. Die Deutschen wollen immerzu Brot, Wurst und Käse, und wenn ich ihnen das alles hinstelle, wollen sie noch Eier und Schinken und dazu fette Butter und am Ende noch eine gegrillte Bratwurst und was es sonst noch alles Grässliches gibt. Wenn ich für ein paar Tage in Bayern bin, esse ich auch Bratwurst, na klar, aber doch nicht hier, in Sizilien, da gehört sich so etwas einfach nicht. Selbst Brot und Butter sind bei diesen hohen Temperaturen schon zu viel, deshalb serviere ich Ihnen frisches Obst und etwas Joghurt, das ist gesund, das werden Sie mögen. Das italienische Frühstück, wissen Sie, ist nämlich in dieser Hinsicht auch nicht das Gelbe vom Ei. Ein Croissant, ein Cappuccino – das ist ja meistens alles, was sie einem vorsetzen, aber ich habe so eine Minimalverkostung noch nie gemocht. Sie ist einfallslos, und außerdem finde ich es einen Skandal, dass sie zum Frühstück alle dasselbe futtern. Einen Cappuccino, einen Cornetto! – das hören Sie in einer italienischen Bar an jedem Morgen siebenhundert Mal. Als müsste es ganz unbedingt so und nur so sein! Als dürfte es nie eine Variation geben! Als stürben sie, wenn der Cornetto fehlte, oder wenn es statt eines Cappuccino mal einen Tee gäbe. Wissen
Sie was? Die meisten
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