Das Kind, Das Nicht Fragte
herausfinden, wo ich mich selbst wohlfühle, denn für meine Arbeit brauche ich solche Wohlfühlpunkte ganz unbedingt. Habe ich solche Räume nach einigen Tagen noch nicht gefunden, kann ich das ganze Projekt vergessen. Wohlfühlpunkte sind Orte, an denen ich mich häufig aufhalte und zur Ruhe komme. Meist üben sie eine geheime Anziehung auf mich aus, deren Ursache mir erst nach einiger Zeit klar wird. Ich nehme Platz, ich schaue mich um – und alles stimmt, wie durch Zauberei.
Es gibt große, von begeisterten Touristenscharen durchwanderte Städte, in denen ich niemals solche Räume für mich entdecke, und es gibt kleine, auf den ersten Blick unbedeutende Dörfer, in denen ich mich bei jedem Aufenthalt mehr zu Hause fühle. Wohlfühlpunkte sind Räume einer zweiten Heimat , sie haben mit den Jahren ein geheimes Netz entstehen lassen, in dem jeder Punkt mit den anderen in einer intensiven, aber undurchsichtigen Beziehung steht.
Jetzt, während meines ersten Rundgangs, ist es nicht klug, hier und da einzukehren, um einen Kaffee zu trinken oder eine Zeitung zu kaufen. Ich muss in Bewegung bleiben, ich muss diese Hauptstraße, die sich wie
ein Reif um den Stadthügel schlingt, mehrmals abgehen, ich muss genau hinschauen und die sich rasch verändernden Atmosphären studieren.
Auf der weiten Piazza vor dem Dom stehen Trauben von schwarz gekleideten, älteren Frauen, die wie die älteren Männer vorhin im Café schweigen, als sie mich bemerken. Ich gehe an ihnen vorbei und betrete den leicht stickigen, lauwarmen Innenraum des großen Kirchengebäudes. Ein Bettengeruch, ein Geruch von alten Gewändern und Vorhängen! In den Seitenschiffen stehen weitere Gruppen von Frauen, jetzt aber sind auch viele jüngere darunter. Sie reden heftig und laut, sie stehen an kleinen Ständen und blättern in bunten Broschüren. Was regt sie so auf? Und warum sind sie in so großer Zahl in diesen Kirchenraum eingefallen, in dem es doch zu dieser Tageszeit keinen Gottesdienst gibt?
Ich tue, als schaute ich mir die Altarbilder der kleinen Altäre in den Seitenschiffen an, doch anders als draußen vor der Kirche blicken die Frauen hier nicht hinter mir her. Sie beachten mich nicht, sie sprechen nicht einmal leiser, als ich dicht an ihnen vorbeigehe. Warum also ist das Verhalten der Frauen draußen und das der Frauen hier drinnen derart verschieden? Was lässt sie einmal schweigen und das andere Mal so tun, als sei ich gar nicht vorhanden?
Ich setze mich für einen Moment in eine Kirchenbank und nehme ein x-beliebiges Buch aus meinem Rucksack. Ich blättere darin herum und schaue dann immer wieder hinauf zur barocken Kassettendecke des Hauptschiffs,
die dem ganzen Kirchenraum etwas von einem gewaltigen Schlafzimmer verleiht. Ich hole meinen Notizblock hervor und notiere: Im Dom. Ein Betten-und Schlafzimmerambiente. Die schweigenden Frauen draußen, die redenden Frauen hier drinnen. Ich verstehe nicht, was sie verhandeln, es scheint etwas von äußerster Wichtigkeit zu sein.
In dem, was ich da gerade notiere, werde ich später vielleicht erste Forschungsthemen erkennen: Die Frauen von Mandlica! Die Räume, in denen sie sich bewegen! Die Gespräche, die sie in diesen Räumen führen!
Ich blicke mich vorsichtig um, wahrhaftig hält sich kein einziger Mann in diesem großen Kirchenschiff auf. Die lauten Stimmen der Frauen klirren wie überdrehte Stimmen aus einem uralten Radio, mal bilden sie dunkle, nachhallende Cluster, dann zerfallen sie wieder in kurze Arien, Stoßgebete und Litaneien. Keine von all diesen Frauen aber blickt zu mir, es ist, als hätten sie sich hinter die Schallmauern ihrer starken Stimmen zurückgezogen.
Ich will die Kirche gerade verlassen, als ich ein fernes Gesicht wiedererkenne. Es ist das braun gebrannte, schmale Gesicht, das mich aus einem Fenster der Pension angestarrt hat. Jetzt starrt es mich zum zweiten Mal aus einem der Seitenschiffe an, ganz direkt und beinahe penetrant, als saugten diese Augen jede meiner Bewegungen tief in sich hinein. Ich will zurückschauen, kann es aber nicht. Einen Moment denke ich daran, auf die Frau zuzugehen, spüre aber sofort, dass auch das unmöglich ist. Ich muss hinaus, nach draußen, ganz unbedingt.
Vor dem Dom sind jetzt beinahe alle Frauen verschwunden, nur noch ein paar letzte Nachzüglerinnen stehen zu zweit oder zu dritt zusammen und staunen mich wieder an. Ich tue so, als bemerkte ich sie nicht, ich gehe langsam weiter, an dem in üppigem Grün schimmernden
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