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Das Kind, Das Nicht Fragte

Das Kind, Das Nicht Fragte

Titel: Das Kind, Das Nicht Fragte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanns-Josef Ortheil
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Italiener sind Ritual-Idioten! Und ich darf das sagen, denn ich lebe seit vielen Jahren in diesem herrlichen Land, und das obwohl die meisten seiner Bewohner Ritual-Idioten sind!

    Ich antworte, dass sie die Kultur der Einheimischen anscheinend durchschaut habe. Sie mag es, wenn ich das sage, ich habe wieder etwas durchschaut, stimmt’s? sagt sie seit einiger Zeit mit einem leichten Grinsen mehrmals am Tag, wenn wir uns an der Rezeption oder auf den Fluren der Pension begegnen. Es ist angenehm, ihr zu begegnen, ich habe mich daran gewöhnt und darauf eingestellt, und wir bringen es fertig, all diese Begegnungen mit kleinen Pointen so aufzuheitern, dass wir immer etwas zu lachen haben.

    Schon bald aber hatte ich Grund zu vermuten, dass dieser lockere Umgang ihrer älteren Schwester nicht gefällt. Ich bekam heraus, dass sie Paula heißt, und ich habe auch erfahren, dass meine Wirtin Maria heißt. Paula versteckt sich an jedem Morgen in der Küche, wo sie, ohne jemals in Erscheinung zu treten, mein Frühstück zubereitet. Ich höre sie leise rumoren und arbeiten, und manchmal glaube ich, ihren Blick auf meinem Rücken zu spüren, doch ich bekomme sie niemals zu sehen.

    Natürlich frage ich Maria nicht nach ihrer Schwester, denn eine solche Frage würde für mich eine größere Vertrautheit zwischen uns voraussetzen. Gleichwohl kann ich mir selbst nicht verbergen, dass mich Paula mehr beschäftigt als die jüngere, redegewandte und lebenslustig
erscheinende Schwester. Irgendetwas ist zwischen den beiden einmal vorgefallen, irgendwelche dunklen und alten Geschichten scheinen noch eine Rolle zu spielen, während es andererseits auch etwas zu geben scheint, das sie fest und freundschaftlich aneinander bindet. Vielleicht sind es diese alten Geschichten, die Maria bei ihrem Wunsch, meine Forschungen sollten sich auch auf diese Pension ausdehnen, im Hinterkopf hatte. Ich vermute vorläufig etwas in dieser Richtung, frage aber nicht länger nach, wie ich mich überhaupt während des Frühstücks damit bescheide, Marias oft weit ausholenden, vitalen Monologen zuzuhören und höchstens ein paar Verständnisfragen zu stellen.

    Wir wohnen am Meer, und wir wohnen doch nicht am Meer, sagt Maria zum Beispiel und stellt mir einen Krug Milch, etwas Honig und weitere kleine Schalen mit dünn geriebenen Mandeln und Zitronat hin. Wir haben einen Hafen und alles, was zu einem Hafen gehört, aber wir haben keinen Strand. Wenn Sie zu dieser Jahreszeit an einen Strand wollen, müssen Sie lange an der Küste entlangfahren, und wenn Sie dann endlich einen Strand finden, werden Sie enttäuscht sein. Ein paar müde Typen wälzen sich da im dreckigen Sand, und ein paar heruntergekommene Bruchbuden müssen dazu herhalten, die Strandgäste zu füttern. Das ist nichts, das ist kein Strand, wie ich ihn mir erträume. Und wenn Sie dann aus lauter Mitleid doch Ihr Handtuch ausbreiten, fegt der Wind derart stark, dass Sie keine Lust mehr haben, ins Wasser zu gehen. Also müssen Sie bis zum Sommer warten, bis zum Sommer! – vorher krümmt kein Sizilianer auch nur einen einzigen Finger!

    Am liebsten würde ich all diese Monologe mit meinem Diktiergerät aufnehmen, aber ich traue mich einfach nicht. Und so höre ich ihr zu und bekomme ganz nebenbei aus der Küche Paulas Herumwerkeln mit, ein helles Aneinanderstoßen von Töpfen, das Zischen einer Espressomaschine, das dumpfe Wums! einer Kühlschranktür, die kraftlos ins Schloss fällt.

    Am dritten Tag meines Aufenthalts verdreht Maria angesichts all dieser Küchengeräusche, die wie Gefechtslärm in den Frühstücksraum herüberhallen, die Augen. Meine ältere Schwester! flüstert sie und schüttelt den Kopf, als wäre Paula ein hoffnungsloser Fall. Ich will diesmal den Moment nutzen, um sie nach ihrer Schwester zu fragen, Maria aber legt einen Zeigefinger auf ihre Lippen und bedeutet mir zu schweigen. Nichts da! – ich darf nicht fragen, anscheinend berühren Fragen nach der älteren Schwester ein strenges Tabu.

9
    I M ORT komme ich unterdessen mit meinen ethnologischen Forschungen erheblich besser voran. Ich habe Glück, denn ich habe einen geradezu idealen Einstieg für meine Fragen und Arbeiten gefunden. Ein solcher Einstieg ist normalerweise ein gewichtiges erstes Thema, mit dessen Bearbeitung man ohne weitere Umschweife beginnt. Hat man ein solches Thema gefunden, sucht
man Gesprächspartner, mit denen man es dann intensiver und genauer behandelt. Viele meiner Kollegen gehen bei ihren

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