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Das Kind, das tötet: Roman (German Edition)

Das Kind, das tötet: Roman (German Edition)

Titel: Das Kind, das tötet: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simon Lelic
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Sie traten gegen die Karosserie und hämmerten mit Fäusten gegen die Scheiben, als würde sich der Schmerz in ihren Zehen und Fingerknöcheln irgendwie auf das Ziel ihres Angriffs übertragen. Jemand holte mit einem Schild an einem Stab aus, wie in Zeitlupe, denn durch die Pappe war es ein wenig so, als würde man ein Ruder durchs Wasser ziehen. Dann drehte der Mann es um und schlug mit dem Stab zu.
    »Daniel!«
    Die Mutter des Jungen hatte sich zwischen die Vordersitze gedrängt. Mit ihren korallenroten Nägeln krallte sie sich an Leos Schulter fest, und selbst als er zusammenzuckte, nahm sie davon keine Notiz. Ihre Aufmerksamkeit galt allein dem, was sich vor ihnen abspielte: der Kleinbus, der ins Schwanken geriet. Zuerst nur leicht, aber allmählich kam er in Schwung, zumal die Protestierenden jetzt mit vereinten Kräften daran rüttelten. Sie würden ihn umkippen. Nicht lange, und der Kleinbus würde auf der Seite liegen.
    Leo versuchte, sich den Jungen vorzustellen. Er saß zwischen zwei Polizisten; ob er wohl nach der Hand von einem von ihnen griff? Ob er weinte, wie es normal für einen Zwölfjährigen wäre?
    »Zum Teufel noch mal!« Blake hatte seine Frau von ihrem Platz zwischen den Sitzen weggedrängt. »Warum geht es denn nicht voran? Fahren Sie doch! Treten Sie doch einfach aufs Gas!«
    »Vince!« Stephanie versuchte, ihren Mann zu sich heranzuziehen. »Setz dich, Vince, bitte!«
    »Sie da!«, sagte Blake und stieß den Fahrer an. »Treten Sie doch einfach aufs Gas. Einfach mitten durch – sind doch selber schuld, die Idioten!«
    Der Polizist drehte sich um. »Setzen Sie sich, Mr. Blake!«
    Blake sank zurück in seinen Sitz und fluchte. Er wollte sich gerade wieder vorbeugen, als ihn ein weiterer Aufprall zurückschrecken ließ. Diesmal hatte niemand etwas geworfen – diesmal lag auf der Windschutzscheibe ein Mensch. Selbst der Fahrer zuckte zusammen. Die Hände weiterhin fest am Steuer, drückte er sich gegen die Kopfstütze und sah mit weit aufgerissenen Augen in das Gesicht vor sich. Es war das eines jungen Mannes: eines Studenten, schätzte Leo, durchnässtes Haar, pockennarbige Haut und die Miene in selbstgerechtem Zorn verzerrt.
    »Nun mach schon!«, zischte der Fahrer. »Beweg dich, verdammt noch mal!«
    Er meinte seine Kollegen, begriff Leo, am Steuer der Fahrzeuge vor ihnen. Doch es war der Student, der sich schließlich bewegte. Er rutschte von der Motorhaube, und als er wieder stand, durchfuhr ihn offenbar ein Krampf. Er krümmte sich und warf den Oberkörper vor, und dann spritzte es gallig grün gegen die Windschutzscheibe. Unwillkürlich gab Leo ein angewidertes Geräusch von sich.
    Jetzt waren sie regelrecht umzingelt. Leo konnte den Kleinbus kaum noch sehen, erkannte aber, dass er immerhin noch stand. Das erklärte vielleicht, warum die Meute sich jetzt auf die anderen Fahrzeuge stürzte. Der Student war jetzt von seinen Freunden umringt. Zu fünft oder sechst standen sie auf der Fahrerseite – gefletschte Zähne, Stinkefinger, Speichel. Einer von ihnen schien ganz besonders wütend auf Daniels Stiefvater zu sein; er brüllte und hämmerte gegen Blakes Fenster.
    »Ist das Sicherheitsglas?«, fragte Blake und versuchte in Deckung zu gehen. »Die Scheibe hier! Ist die kugelsicher?«
    Er bekam keine Antwort. Daniels Mutter neben ihm war in sich zusammengesunken und schluchzte, die Hände zu Fäusten geballt unter dem Kinn und die Knie an den Bauch herangezogen. Irgendjemand – Leo sah nur einen kräftigen, nackten Vorderarm – hielt sich an ihrem Türgriff fest, wollte die Tür aufreißen. Aber sie blieb fest geschlossen, und der Arm, sein Besitzer schien nachzugeben. Doch dann stieß Stephanie einen Schrei aus, und Leo drehte sich um und sah durch sein Fenster, was sie sah: einen Mann, der mit wutverzerrtem Gesicht vor der Scheibe stand und mit geröteten Knöcheln ein Stück Holz, so lang und dick wie ein Baseballschläger, umklammerte.
    Leo wich so weit vom Fenster zurück, wie es der Gurt erlaubte. Er tastete nach der Gurtsicherung, wollte sich abschnallen, doch als er den Knopf schließlich fand oder es zumindest glaubte, blieb sein Gurt fest. Er sah runter und merkte, dass er den falschen Knopf gedrückt hatte: Der Gurt des Fahrers hatte sich gelöst, aber sein eigener war weiterhin fest eingerastet. Leo wand sich, wollte sich losreißen, aber je mehr er sich bewegte, desto fester hielt ihn der Gurt. Der Mann draußen, der das Fenster jetzt ganz ausfüllte, hielt den

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