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Das Kind, das tötet: Roman (German Edition)

Das Kind, das tötet: Roman (German Edition)

Titel: Das Kind, das tötet: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simon Lelic
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Knüppel bereits auf Schulterhöhe. Sein Oberkörper war gedreht, die Füße standen fest auf dem Boden: Er war bereit zum Zuschlagen.
    Leo drückte sich tiefer in seinen Sitz und schloss die Augen. Er machte sich auf das Klirren von splitterndem Glas gefasst, auf Scherben, die sich in seine Haut bohrten – stattdessen hörte er jemanden rufen.
    »Na endlich!«
    Leo sah hoch: zu dem Polizisten neben ihm, dann wieder zurück zum Fenster. Er rechnete mit dem Angreifer, dem herabsausenden Holzknüppel, aber der Mann war verschwunden. Wo er gestanden hatte, umringte jetzt eine gelbe Menschenkette den Wagen. Auch vor ihnen war freier Raum. Einen Meter, zwei, und dann die Straße – freie Bahn, wo der Wagen vor ihnen gerade weggefahren war.

    Obwohl ihr Wagen als letzter auf den Vorplatz des Gerichts fuhr, kam er als erster zum Stehen, und Leo sprang sofort hinaus, ging schnaubend ein paar Schritte und drückte sich die Handballen gegen die Schläfen. Er hörte das Echo der Szene vor den Toren und das Gebrüll von Polizisten dahinter. Irgendwer in der Nähe fluchte: auf Untergebene vielleicht oder auf eine Situation, auf die sie alle nicht gefasst gewesen waren.
    Als Nächstes stieg Daniels Mutter aus, gefolgt von ihrem Mann. Stephanie schwieg, doch Daniels Stiefvater machte seinem Ärger unverhohlen Luft.
    Leo bot Stephanie den Arm an. Sie strauchelte und hakte sich bei ihm ein.
    »Alles in Ordnung?«
    Daniels Mutter antwortete nicht. Die Zigarette bereits im Mund, kramte sie wild in ihrer Handtasche – sie suchte ein Feuerzeug, nahm Leo an, und obwohl er nicht mehr rauchte, klopfte er seine Taschen nach irgendetwas Hilfreichem ab.
    »Meine Güte, Stephanie.« Daniels Stiefvater hatte nun endlich jemanden gefunden, an dem er seinen Ärger auslassen konnte. »Deine Familie wird fast zu Hackfleisch gemacht, aber du denkst nur an die nächste Kippe.« Er grinste höhnisch, und Leo sah ihn an, bis der Fahrer zwischen sie trat.
    »Hier«, sagte er, zwischen den Fingern ein angezündetes Streichholz. Stephanie beugte sich vor, doch dabei fiel ihr die Zigarette aus dem Mund. Der Fahrer zündete seine eigene an und gab sie ihr, und sie zog daran wie jemand, der nach einem Tauchgang nach Luft schnappt.
    »Alles in Ordnung?«, fragte diesmal der Fahrer. Er sah Stephanie an, die gerade so nicken konnte, und dann Leo.
    Leo konnte nur mit dem Kopf schütteln. »Wer waren denn diese ganzen Leute? Die waren doch bestimmt nicht alle nur wegen …«
    »Daniel!«
    Leo fuhr herum und sah den Jungen, der sich neben dem Kleinbus aus dem Griff eines Polizisten zu befreien versuchte. Ein zweiter schlug seinem Kollegen auf die Schulter, und damit war Daniel frei. Seine Mutter rief ihn noch einmal, und er rannte über den Hof auf sie zu. Leo sah, dass er schluchzte. Tränenüberströmt huschte er an seinem Stiefvater vorbei, der sich jetzt selbst eine Zigarette anzündete, und warf sich seiner Mutter so stürmisch in die Arme, dass die beiden fast umfielen. Doch sie fing ihn und fand das Gleichgewicht wieder, und sie umarmte ihn so fest, als wollte sie ihn erdrücken. Dabei sagte der Junge etwas, das Leo nicht verstand. Einen einzigen Satz nur, mehr als einmal und gedämpft durch die Umarmung seiner Mutter. Erst als sie ihn ein Stück von sich weghielt – um ihm die Tränen abzuwischen und nachzusehen, ob ihm etwas passiert war –, verstand ihn Leo.
    »Es tut mir leid«, sagte er, immer und immer wieder.

6
    L eo.«
    Er ging im Flur auf und ab und konnte einfach nicht stehen bleiben. Aus Gewohnheit hatte er die Schuhe ausgezogen, aber er hatte den Mantel und sogar den Schal noch an und erklärte Megan, was passiert war, oder versuchte es zumindest, denn er wusste nicht, wo er anfangen sollte.
    »Leo. Leo!«
    Er schüttelte den Kopf, hob eine Hand. »Im Ernst, Meg. Sie waren mit Buggys da. Buggys! Eine Frau hatte ein Kleinkind dabei. Sie hat es hochgehalten wie … keine Ahnung, wie ein Transparent. Ja! Genau so. Guck, so hat sie den Kleinen gehalten, und in der anderen Hand hatte sie tatsächlich ein Transparent, so ein Schild, und da stand drauf …«
    »Leo, bitte. Hör mir mal kurz zu.«
    »Da stand drauf ›Schande‹, einfach nur ›Schande‹, nur dieses eine Wort: ›Schande‹. Und es gab noch andere Transparente, dieses eine zum Beispiel, da stand drauf … warte …«
    »Leo!«
    Er hielt inne. Er sah seine Frau an, die sich eine Hand vor den Mund hielt. Sie schloss die Augen.
    »Meg?«
    »Bitte, Leo«, sagte sie und

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