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Das Kind, das tötet: Roman (German Edition)

Das Kind, das tötet: Roman (German Edition)

Titel: Das Kind, das tötet: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simon Lelic
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nicht einfach denen? «, fragte der Junge, und hinter Leo ging klackend die Tür auf.

5
    I rgendetwas zerplatzte an der Scheibe, und Leo duckte sich. Als er vorsichtig hochsah, waren da nur der Himmel und etwas, das einer zerfließenden Sonne ähnelte.
    »Meine Güte!«, sagte er, und irgendjemand im Wagen wiederholte es. Der Fahrer? Daniels Stiefvater?
    Leo setzte sich wieder auf und sah an dem zerfließenden Eigelb vorbei auf die Straße. Normalerweise war sie eine schläfrige Aneinanderreihung von Geschäften, aber jetzt hatte sich dort ein wahrer Menschenauflauf gebildet. Hauptsächlich junge Männer, dachte Leo zuerst, und eindeutig am falschen Ort; ihr Zorn traf die Falschen. Das waren Anarchisten, Antikapitalisten, Faschisten oder Antifaschisten. Hier war offenbar irgendetwas los, von dem Leo nichts wusste – etwas verwunderlich vielleicht, dass es ausgerechnet in Exeter stattfand, aber keineswegs verwunderlich, dass Leo überhaupt nichts davon mitbekommen hatte. Er hatte tagelang keine Zeitung mehr aufgeschlagen, und es gab ohnehin keinen Artikel, der nicht irgendwie mit dem Fall in Verbindung gestanden hätte. Aber halt, hier ein Buggy, dort ein Buggy. Eine Mutter mit ihrem Sohn auf dem Arm rief etwas. Und da drüben: Schulkinder. Drei, nein vier. Zwei Mädchen und zwei Jungen, etwa so alt wie seine Tochter und – in der Schuluniform seiner Tochter. Sie schienen nicht wie Leo überrascht von dem Aufruhr, sondern grölten mit den anderen um die Wette. Schulkinder! Und als Leo genauer hinsah, hatte es den Anschein, als würde einer der Jungen das nächste Ei werfen. Instinktiv duckte er sich, aber das Geschoss verfehlte sie diesmal um eine Wagenlänge. Irgendetwas anderes traf sie, dem Klang nach zu urteilen auf dem Dach. Hinter Leo auf dem Rücksitz kreischte Daniels Mutter, ein Pendant zu dem dumpfen Schlag des Aufpralls. »Meine Güte«, sagte die Stimme wieder. Es war nicht der Fahrer, ein Polizist und, wie Leo hoffte, für solche Situationen geschult. Dann also Daniels Stiefvater, auf dem Rücksitz neben der Mutter des Jungen. Leo drehte sich um, lehnte die Wange gegen den Samtbezug der Kopfstütze.
    »Was sind das für Leute?«, fragte Stephanie Blake. Sie riss die Augen so weit auf, dass ihr Make-up kleine Risse bekam, die wie Falten aussahen. Sie war in ihrem Sitz zusammengesunken, und ihr Rock, ohnehin schon zu kurz für einen Termin vor Gericht, war hochgerutscht und gab den Blick auf die Hälfte ihres Schenkels in engem Nylon frei. »Vince? Vince! Was ist hier …«
    »Was zum Teufel geht hier vor sich?«, fragte Vincent Blake. »Wo fahren Sie uns eigentlich hin?« Er saß hinter dem Fahrer, so dass er gar nicht anders konnte, als seinen Zorn auf Leo zu richten.
    Irgendetwas prallte gegen Blakes Fenster, und er drehte ruckartig den Kopf um. Sein verkniffenes Gesicht wurde ganz bleich. Er hatte eine schiefe Nase, die ihm etwas Ganovenhaftes verlieh, und quer darüber verlief eine Falte, die sich unter seinen Augen fortsetzte, aber jetzt hatte seine Erscheinung nichts Einschüchterndes oder Hartes mehr. Er rutschte ein Stück dichter an seine Frau heran, wodurch er sie näher an die äußere Tür drängte.
    »Bleiben Sie ruhig sitzen«, sagte der Fahrer, und Leo sah wieder nach vorn. Der Polizist, ein junger, ernster Constable, gab sich größte Mühe, unbeteiligt zu wirken, aber seine Hände, die das Lenkrad umklammerten – zehn vor zwei –, verrieten seine Anspannung. »Es könnte jetzt etwas ungemütlich werden«, fügte er hinzu.
    Das war eine Untertreibung. Was sie bereits hinter sich gelassen hatten, waren nur die Ausläufer des Mobs vor dem Gerichtsgebäude gewesen. Den Straßenrand säumte ein Kordon aus Polizisten mit neongelben Westen, aber er wirkte schon etwas instabil. In dem Moment, als der Kleinbus – der Kleinbus mit Daniel darin – vor dem Gerichtsgebäude vorfuhr, riss die Kette.
    Die wütende Menge stürmte los. Es mussten zwei-, drei- oder vierhundert Menschen sein, und die Männer – in den ersten Reihen standen kaum Frauen – führten den Pulk an. Obwohl der Konvoi – ein Polizeiwagen, der Kleinbus, ein weiteres Polizeifahrzeug und schließlich Leo mit Daniels Eltern – recht zügig gefahren war, konnte der Fahrer ganz an der Spitze jetzt gar nicht anders, als zu bremsen. Die Fahrzeugschlange wurde langsamer, dann hielt sie an, und der Protest artete in eine regelrechte Schlacht aus.
    Erst ein und dann ein weiteres Dutzend Männer umringten Daniels Kleinbus.

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