Das Kind, das tötet: Roman (German Edition)
in Reih und Glied hingen; ihre Kleidung lag ordentlich gefaltet dort, wo sie hingehörte, und ihre CDs waren gestapelt und wahrscheinlich auch sortiert. Die Bücher in den Kieferregalen wirkten zwar auf den ersten Blick wie zufällig zusammengestellt, doch Leo vermutete, dass auch sie nach irgendwelchen systematischen Gesichtspunkten angeordnet waren. Insgesamt wirkte Ellies Zimmer, als sollte es für den nächsten IKEA-Katalog abfotografiert werden, hatte Leo einmal zu seiner Frau gemeint. Das sei nicht normal, hatte er gesagt, nicht für einen Teenager. Es sei aber auch nicht normal, hatte Meg dagegengehalten, dass ein Vater bedauerte, sich über nichts beklagen zu können. So sei ihre Tochter eben, und in ihrem Zimmer habe sie freie Hand. Wenn Leo unbedingt Chaos um sich herum brauche, könne er ja in sein Arbeitszimmer gehen.
»Hau ab!«
Ellie lag auf dem Bett, reglos wie eine Tote. Ihr Rücken war zur Tür gewandt, und Rupert lag als scheckiges Bündel zusammengerollt in ihren Kniekehlen. Auch wenn sie ansonsten offenbar noch etwas spürte, hätten diese Worte mit ihrem letzten Atemzug gehaucht worden sein können.
»Wir wollen nur kurz mit dir sprechen, Liebes.« Leo kniff die Augen zusammen. »Stört es dich, wenn ich das Licht …«
»Nein!«
Leo zog die Hand vom Lichtschalter. Er sah Megan an, die ihm wortlos zu verstehen gab: Und, was hab ich dir gesagt?
Leo zögerte, dann zwang er sich zu einem Lächeln. Er ging auf das Bett seiner Tochter zu und versuchte sich an einem, wie er hoffte, einfühlsamen Seufzen. »Wie’s aussieht, hatten wir ja beide einen harten Tag«, sagte er. Er betrachtete den Rücken seiner Tochter, auf den das Licht der Flurlampe fiel.
Ellies dünnes, zerbrechliches Rückgrat zeichnete sich unter ihrem Top ab. Ihre herzzerreißend schmalen Schultern waren in einer Art Abwehrhaltung nach vorn gezogen. Ihr Haar wirkte feucht – gewaschen, aber nicht gekämmt –, und Leo spürte förmlich, wie es kalt auf ihren nackten Schultern lag. Er hatte das unwillkürliche Bedürfnis, es von ihrer Haut abzustreifen und seine Tochter mit den Laken zuzudecken, auf denen sie lag. Noch einmal seufzte er. Die Matratze drückte sich gegen seine Knie, und er überlegte, ob er sich auf die Bettkante setzen sollte. Stattdessen ließ er die Fingerspitzen darüber gleiten und dann weiter über die schlafende Katze. »Wir machen einen Deal«, sagte er. »Ich erzähl dir, wie mein Tag gelaufen ist, und dann kannst du mir …«
Ellie schnellte herum. »Ich will überhaupt nichts von deinem blöden Tag hören!«
Leo zuckte zusammen. »Ellie, ich …«
»Hau ab! Geh einfach!«
Leo öffnete den Mund. Hör mal, Ellie, wollte er sagen, doch als Ellie sich ins Licht drehte, sah er, dass ihr Gesicht ganz rot war. Nur ein Teil ihres Gesichts, feuerrot, und auch die linke Seite des Halses bis hinunter zum Schlüsselbein, und dieses Rot war zu ungleichmäßig verteilt und zu kräftig, als dass es sich durch Ellies Zorn hätte erklären lassen. Leo streckte unwillkürlich die Hand aus.
»Lass mich!« Ellie drehte das Kinn weg.
»Mach mal das Licht an.« Als die Antwort seiner Frau ausblieb, drehte sich Leo um. »Meg. Mach doch mal das Licht an.«
Diesmal tat Megan, wie ihr geheißen. Ellie zuckte zusammen, und Leo starrte sie an. Er streckte noch einmal die Hand aus, und diesmal ließ Ellie zu, dass er ihren Kopf zur Seite drehte.
»Ich hab es nicht abgekriegt«, sagte sie. Sie begann zu weinen. »Ich hab geschrubbt und geschrubbt, aber es ging nicht ab.«
Seine Frau schrie auf. Leo merkte, wie Megan sich neben ihn hockte, doch er konnte die ganze Zeit nur auf das Gesicht seiner Tochter starren: tintenbekleckst, aber auch voller Scheuerspuren. Unterhalb des Jochbeins und entlang ihres Kieferknochens war die Haut von einer blutigen Kruste überzogen, so als wäre Ellie über Asphalt gezerrt worden.
»Ellie«, sagte Leo und hörte sich selbst kaum. Es zog seine Finger wie von selbst zu den Wunden seiner Tochter. Diesmal zuckte Ellie zusammen, und Rupert bewegte sich, wenn auch nur ungern.
»Nicht!« Ellie rutschte auf das Kopfbrett zu. Sie schluchzte jetzt. »Geht einfach. Bitte, lasst mich einfach allein!« Dann vergrub sie das Gesicht in ihrem blutigen Kissen.
Sie konnten es sich in etwa denken. Im Wohnzimmer und fast ohne jede Diskussion reimten sie sich zusammen, was, wann und warum. An die Frage, wer es gewesen war, wagten sie sich nicht heran. Einerseits bestand kaum Hoffnung, das
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