Das Kind, das tötet: Roman (German Edition)
Trauerzugs wurde jetzt eine Luftaufnahme der Kathedrale von Exeter gezeigt. Der gotische Koloss, der für einen Anlass wie diesen hätte errichtet worden sein können, stand auf einer großen freien Fläche jenseits der High Street, umgeben von Kopfsteinpflasterwegen und einer Rasenfläche, auf der an normalen Tagen Studenten mit ihren Sandwiches saßen. Heute war unter der Menge nur ein mit Kordeln abgetrennter Streifen des Bodens zu sehen.
Leo griff nach seinen Akten und legte sie sich in den Schoß. Er spürte Megans taxierenden Blick und sah auf die obere Seite, als würde er lesen. Dann blätterte er um.
»Wer ist dieser Typ eigentlich?«, fragte er, ohne auf den Fernseher zu gucken, denn er schaffte es nicht, die Stimme des TV-Sprechers auszublenden. »Der klingt, als hätte er die Daily Mail verschluckt.« Jedes Wort, das gesagt wurde, und jedes gezeigte Bild wirkte wie eine Verurteilung. Es wurden natürlich keine Namen genannt. Aber das war auch nicht nötig, das war ja das Problem.
Megan schluchzte auf, und Leo hob den Kopf. Was ist?, wollte er gerade fragen, aber er sah es schon.
Felicitys Familie. Der Autokorso war an der Kathedrale angelangt, und die Passagiere stiegen langsam aus. Zuerst die Onkel, sagte der Kommentator aus dem Off; sie knöpften ihre Jacketts zu und setzten eine starre Miene auf. Sie bildeten eine Begrenzungslinie, und erst als diese stand, folgten auch die Tanten unter ihren Hüten. Als Nächstes kamen Cousins und Großeltern, die Kinder in unverwaschenem Schwarz, die Pensionäre in verschiedenen Grautönen. Dicht zusammengerückt, machten sich die Generationen auf den Weg zu dem Wagen an der Spitze.
Es entstand eine Verzögerung, lang genug, um für Aufsehen zu sorgen. Darauf – auf diejenigen im Wagen – hatten alle vor den Bildschirmen gespannt gewartet. Das Blatt in Leos Händen fiel ihm in den Schoß.
Die Wagentür öffnete sich, man sah einen Fuß: in einem Herrenschnürschuh, pechschwarz und poliert. Der Spalt wurde größer, und heraus kam Felicitys Vater. Er war nicht unbedingt ein stattlicher Mann, aber er richtete sich zu seiner vollen Größe auf, hob das Kinn und spannte die Schultern an. Er blickte sich um und sah für einen Augenblick in die Kamera, doch seine Miene blieb unverändert. Dann wandte er sich wieder zum Wagen und beugte sich kurz hinein, und jetzt stiegen seine Söhne aus, Felicitys Brüder, und stellten sich neben ihn auf das Kopfsteinpflaster.
Selbst der Jüngste war eine Handbreit größer als sein Vater. Die Jungen waren fünfzehn und siebzehn, glaubte Leo sich zu erinnern. Frederick? Frederick und Francis, konnte das sein? Auf jeden Fall Namen mit F, denn das war so eine Besonderheit bei den Forbes, dass die Namen aller Kinder mit F begannen. Anders als Felicity waren die Jungen blond, und das erinnerte Leo an ein Bild von einigen Jahren zuvor, das der beiden Prinzen an der Seite ihres Vaters bei Dianas Beerdigung. Genau wie ihre Pendants aus der königlichen Familie wirkten die Jungen gefasst, so gefasst, dass es einem das Herz brach. Selbst der Kommentator wirkte betroffen, er verstummte für einen Moment. Keine bewusste Entscheidung, nahm Leo an, aber dennoch die angemessene Reaktion.
Auf dem Bildschirm herrschte einen Augenblick lang Verwirrung, bis jemand an die Gruppe herantrat und ihnen mit ausgestrecktem Arm den Weg wies. Doch der Kameramann schien noch unschlüssig zu sein. Jemand fehlte. Die Kamera schwenkte nach links, dann abrupt nach rechts, bevor sie ihr Ziel gefunden hatte. Eine Frau und ein Mädchen kamen Hand in Hand von der Beifahrerseite aus um den vorderen Wagen herum. Felicitys Mutter und ihre Schwester Faye waren außerhalb des Bildes ausgestiegen, geschützt durch die enorm breite Krempe des Huts der Mutter. Wieder machte das Bild einen Ruck, als hätte die Kamera einen Schubs bekommen, und wechselte in eine andere Perspektive. Jetzt war das Gesicht des Mädchens zu sehen – eine besorgtere, weniger runde Version von Felicity –, aber die Kamera wanderte weiter. Der Regisseur und die Kameraleute hatten es auf die Mutter abgesehen. Anna Forbes hatte ihren Hut jedoch nicht ohne Grund ausgewählt. Sie trug ihn leicht schräg in Richtung der Kameras geneigt, und er verdeckte bis auf ihr blasses Kinn ihr ganzes Gesicht, bis sich die Tanten und Großeltern um sie und ihre Tochter scharten und sie auf dem Weg zur Kirche abschirmten.
Der Kommentator fand seine Stimme wieder, und Leo schaltete innerlich ab. Er blickte
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