Das Kind, das tötet: Roman (German Edition)
wieder in seinen Schoß und sah den Sarg nur aus dem Augenwinkel. War das Felicitys Vater, der ihn trug? Zusammen mit ihren Onkeln? Von Megan kam ein Wimmern, und Leo beschloss, dass er es gar nicht wissen wollte. Er versuchte, sich auf seine selbstgestellte Aufgabe zu konzentrieren, doch im Fernsehen war es wieder still, und die Stille lenkte ihn in gewisser Weise noch mehr ab als das Geschwätz des Kommentators.
Er legte die Akten beiseite und nahm die Post zur Hand, die er am Morgen aus dem Büro mitgebracht hatte. Dankbar für etwas, das eine Betätigung der Hände erforderte, steckte er den Finger in den obersten Umschlag und riss ihn auf.
»Leo, bitte.«
Leo sah in das tränenverschmierte Gesicht seiner Frau.
»Musst du dich unbedingt jetzt um die Post kümmern?«
»Ich bin ganz leise«, sagte Leo. Er hob den Brief und tat so, als würde er konzentriert lesen, dabei war sein Blick auf den Bildschirm gerichtet.
Der Sarg war etwas kleiner als üblich. Leo wusste zuerst nicht, was ihm daran merkwürdig vorkam, aber genau das war es. Er war etwas kleiner als üblich und strahlend weiß. Felicitys Familie trug ihn zum Eingang der Kathedrale wie ein Tablett voller Kristallgläser. Die beiden Männer ganz hinten – es waren wohl die Onkel des Mädchens – hatten einander die Arme um die Schultern gelegt; ob das dazu diente, die Last zu stabilisieren, oder ob sie einander trösteten, hätte Leo nicht zu sagen vermocht.
Jetzt wurden Bilder aus dem Inneren der Kathedrale übertragen. Die Bankreihen waren natürlich bis auf den letzten Platz besetzt. Der Sarg, der so vorsichtig durch den engen Gang getragen wurde, hob sich leuchtend vom allgegenwärtigen Schwarz ab. Einige Trauergäste verfolgten seinen Weg nach vorn, andere sahen demonstrativ weg, auf ihre Hände oder Füße, und wieder andere hatten die Augen geschlossen.
»Du kannst ruhig hingucken. Du brauchst nicht so zu tun, als würdest du lesen.«
Leo nahm schnell den nächsten Brief. »Was? Ich weiß. Mach ich doch gar nicht.« Interessiert betrachtete er den Umschlag von allen Seiten.
»Guck es dir einfach an, Leo. Ich verrate es auch niemandem, versprochen.«
Diesmal war es Leo, der ihr einen finsteren Blick zuwarf. »Was soll denn das jetzt heißen?«
»Nichts.« Megan seufzte. »Tut mir leid.«
Leo funkelte sie für einen Moment böse an. Er sah noch einmal auf den Umschlag, den er in der Hand hielt, und warf ihn ungeöffnet wieder auf den Stapel. Dann war es still: im Zimmer und im Fernsehen.
»Leo.«
Er sah nicht hin.
»Leo.«
Jetzt sah er doch hin.
»Sei mir nicht böse«, sagte Megan. »Ich meinte nur …«
Leo wartete.
Seine Frau schniefte und fasste sich allmählich wieder. Sie drehte sich ein Stück um, so dass sie ihn ansah. »Ich meinte nur, dass dir niemand einen Vorwurf machen würde. Ich nicht. Und deine Tochter sicher auch nicht.« Megan deutete mit dem Kopf auf die Decke, in Richtung Ellie, die sich in ihrem Zimmer eingeschlossen hatte.
»Mir einen Vorwurf machen?« Leo legte den Kopf ein wenig schräg. »Weswegen denn?« Es ging jetzt eindeutig nicht mehr nur um die Beerdigung.
Megan schüttelte den Kopf: nicht als Antwort, sondern abweisend. »Sieh es dir doch an, Leo. Sieh es dir einfach an.« Sie zeigte auf den Bildschirm. Keiner von beiden sah hin. »Und hast du dir mal angeguckt, was er mit deinem Gesicht angestellt hat?«
Leo strich mit den Fingerspitzen über die Wunden auf seiner Wange. »Das war ein Unfall.« Er ließ die Hand sinken. »Ich hab dir doch erzählt, wie das passiert ist.«
Megan runzelte die Stirn.
»Was ist?«, fragte Leo.
»Nichts. Ein Unfall. Na gut. Ich sag ja nur. Aber wenn du den Fall abgeben würdest, wenn du dir sagen würdest: Nein, das ist es alles nicht wert. Ich würde es verstehen.«
»Das ist es alles nicht wert? Was soll das heißen, das ist es alles nicht wert? Das hier ist so ungefähr das Einzige, in das ich jemals eingebunden war, das sich entfernt nach etwas Lohnenswertem anfühlt.«
Megan warf verächtlich den Kopf in den Nacken. »Das hab ich überhört, Leo. Ich tu einfach so, als hättest du das nicht gesagt.«
»Beruflich. In beruflicher Hinsicht, meinte ich.«
»Du meinst, dir ist langweilig. Ja? Du mutest deiner Tochter, deiner Frau und dir selbst das alles hier zu, weil du keine Lust mehr auf das tägliche Einerlei hast?«
Das tägliche Einerlei. Leo dachte an die ewigen Autoschlangen, die endlose Folge von Vandalismus und Ruhestörung. Er dachte an seinen
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