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Das Kind, das tötet: Roman (German Edition)

Das Kind, das tötet: Roman (German Edition)

Titel: Das Kind, das tötet: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simon Lelic
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sie ihren Toast sieht, der zerkrümelt auf der Arbeitsplatte liegt, springt irgendein Instinkt in ihr wieder an. »Entschuldigen Sie!« Sie legt das honigbeschmierte Messer auf dem Teller ab und schiebt ihn, zusammen mit dem halbvollen Aschenbecher, neben das Spülbrett. Dann versucht sie, mit der Hand die Krümel zusammenzufegen.
    »Und die Einbauküche?« Der Junge zeigt mit seinem Kuli darauf. »Ist die neu?«
    »Äh.« Megan sieht sie an. Sie ist nicht neu, sie war schon im Haus. Doch bevor sie richtig antworten kann, ist der Junge schon weitergezogen.
    »Was ist hier drin?«, fragt er und verschwindet in der Waschküche. »Wunderbar!«, hört Meg ihn rufen, und der Junge kommt wieder heraus, wobei sein Kopf im gleichen Takt wippt wie sein Stift. »Wunderbar geräumig«, sagt er, und dann, ernster: »Sehr praktisch.«
    Er sieht Megan an, wartet auf ihre Zustimmung, und sie macht »Hm«, was so viel heißt wie: Stimmt, jetzt, wo Sie es sagen. Sie bedeutet dem Jungen, in den Flur zu gehen.
    »Gut, wie ist denn Ihre Perspektive?«, fragt der Junge, während er in wenigen Sätzen die Treppe nimmt. Er sieht zur Decke, und wenn er gerade nicht spricht, geht sein Mund auf und zu wie eine Tür, die aus den Angeln ist. Er sieht aus wie ein Tourist unter dem Kuppeldach von St. Paul’s.
    »Meine Perspektive?«
    Der Junge ist stehen geblieben, um sich eine weitere Notiz zu machen, und Megan, gerade auf dem Treppenabsatz angekommen, ist dankbar für die Gelegenheit zum Luftholen.
    »Bezüglich des Hauses. Haben Sie schon was Neues in der Pipeline? Wie schnell wären Sie bereit, den Knopf zu drücken?«
    Diese Redewendung kommt ihr passend vor. Megan fallen die Filme ein, die sich Leo immer angesehen hat, die Knöpfe, mit denen Bomben gezündet wurden.
    »Recht schnell.« Noch während sie das ausspricht, merkt sie, dass sie es tatsächlich ernst meint. »Eigentlich sofort.«
    Der Junge dreht sich um. »Wunderbar.« Er lächelt. »Hervorragend.«
    »Wäre das ein Problem?«
    »Nein. Nein, überhaupt nicht. Es ist nur, weil … Sie haben ja am Telefon …«
    »Ich weiß. Aber, na ja. Die Umstände haben sich geändert.«
    Der Junge sieht sie an, jetzt endlich einmal mit einem Gesichtsausdruck, bei dem seine Zähne nicht im Spiel sind. An einem halben Vormittag?, fragt er sich im Stillen.

    Sie ist ihm nicht ins Zimmer ihrer Tochter gefolgt, aber als er weg ist, geht sie noch einmal hinein. Sie kniet sich ans Fußende des Einzelbettes, auf den Knien ihren Notizblock und neben sich Leos alten Casio-Taschenrechner. Sie tippt, rechnet, tippt. Der Taschenrechner müht sich ab in dem Halbdunkel, und die Zahlen auf dem Display sind so blass wie das Muster der Bettwäsche. Aber sie hat bereits alles Nötige abgezogen, und das Wichtigste ist, dass dort immer noch etwas steht. Genug, um ihre Schulden abzuzahlen. Genug für die Miete. Wenn alles gutgeht, genug für etwas Dauerhaftes. Und wenn man dem Immobilienmakler Glauben schenken darf, ist das der worst case. Im besten Fall … Wieder tippt sie etwas ein. Sie schüttelt den Kopf. Warum hat sie bloß so lange nicht auf ihre innere Stimme gehört?
    Die Antwort drängt sich ihr richtiggehend auf: Die Umstände haben sich verändert. Hat sie es nicht so gesagt? Ich bin aufgewacht, hätte sie sagen können. Oder: Ich habe in einem Fass auf einem Hügel gesteckt, und jetzt ist es endlich zerschellt, und ich befinde mich im freien Fall. Sie lacht. Sie glaubt, sie würde lachen, aber wie sich zeigt, weint sie. Im schlechtesten Fall, im besten Fall. Es hat überhaupt nichts mit dem Geld zu tun. Oder vielleicht hat es das einmal, als sie glaubte, es würde nicht reichen. Aber Fakt ist, jetzt ist es unerheblich. Das Geld ist das geringste Problem.
    Sie wischt sich mit der Hand über jedes Auge und steht auf. Sie drückt die Schultern durch, so als stünde dort jemand, vor dem sie sich aufrichten müsste, sieht sich kurz im Zimmer ihrer Tochter um und packt dann ihre Sachen zusammen, als wollte sie hinausgehen.
    Doch sie bleibt stehen.
    Eine Pilgerstätte, hat ihre Mutter es genannt. Und nicht in einem positiven Sinne. Du kannst doch nicht ewig trauern, Liebes, hat sie gesagt. Es wäre besser, du räumst die Sachen weg. Das hilft dir vielleicht. Das wäre weniger schmerzhaft. Nicht wahr? Die Gardinen abzunehmen, die CDs in einen Karton zu packen und die Tapete einfach weiß zu überstreichen. Aber Megan weigerte sich, und deshalb blieb es eine Pilgerstätte: eine, die Megan am Anfang

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