Das Kind, das tötet: Roman (German Edition)
dann kräftiger und riss sich das Papier schließlich mit einem Ruck vom Gesicht. Er befühlte seine Wange. Seine Fingerspitze war rot. Er riss einen kleinen Taschentuchstreifen ab und heftete ihn auf die Wunde, so wie er es getan hätte, hätte er sich beim Rasieren geschnitten. Ob er damit wohl durchkam? Eine alte Rasierklinge, könnte er sagen. Alternde Haut.
Er atmete ein, schürzte die Lippen und atmete prustend aus, bis seine Lungen leer waren. Er kam sich auf einmal vor, als würde er gerade gegen irgendetwas verstoßen, auch wenn er nicht zu sagen vermocht hätte, gegen was. Auf jeden Fall hatte er alle Hände voll zu tun. Aber er hatte trotzdem keine Lust, diese unwirkliche Oase zu verlassen und in die Welt zurückzukehren. Und so saß er allein vor einer Mauer, fragte sich, was da gerade passiert war, und schaffte es trotz allem nicht, den Jungen dafür verantwortlich zu machen.
9
S ie sahen es sich im Fernsehen an. Megan wäre wahrscheinlich gern hingegangen. Normalerweise zumindest. Leo dagegen hätte lieber sogar auf die Fernsehübertragung verzichtet. Er hatte das vorsichtig angemerkt – oder zumindest dazu angesetzt –, aber es stand offenbar nicht zur Debatte. Das gehört dazu, hatte die Miene seiner Frau gesagt.
Und so saßen sie also vor dem Fernseher, Seite an Seite, aber so weit voneinander entfernt, wie es der Dreisitzer zuließ: Leo mit Akten, die er neben sich auf der Armlehne balancierte, Meg mit einem Taschentuchspender auf ihrer Seite. Die Vorhänge waren zugezogen, und Leo hatte es sich verkniffen, nach dem Grund zu fragen. Es schien zwecklos, beinahe abergläubisch. Eine Alibiaktion, um es ganz hart zu sagen, so wie die Beerdigung selbst. Eine Zeremonie für die Lebenden, die Leos Erfahrung nach nur half, wenn man nicht ernsthaft litt.
Er schaltete die Stehlampe ein.
Der Kommentator kam aufs Wetter zu sprechen. Jetzt schon, dabei lief die Übertragung erst seit ein paar Minuten. Offenbar wurde es als passend empfunden, weil es so untypisch war für die Jahreszeit – genau wie Regen sicher schicklich gewesen wäre, vermutete Leo, oder ein Leichentuch aus Schnee oder ein wütender, gequälter Wind.
Es war eine seltsame Entscheidung, fand er. Die Welt hereinzulassen, wohingegen er an der Stelle der Forbes alles getan hätte, um sie auszusperren. Den Tag zu einem öffentlichen Ereignis zu machen, das erschien ihm irgendwie unpassend. Wobei sie vielleicht gar keine andere Wahl mehr hatten angesichts der Aufmerksamkeit, die der Tod ihrer Tochter erregt hatte. Selbst die Beerdigung seines Vaters war damals plötzlich weit über den kleinen Kreis hinausgewachsen. Es waren Verwandte da gewesen, die Leo kaum wiedererkannt hatte, Freunde, die vor langer Zeit weggezogen waren – und außer Leo und seiner Familie waren sie eigentlich alle nur aus Pflichtgefühl gekommen. Unter diesen Umständen taten die Forbes also vielleicht etwas Mutiges. Vielleicht war es genau genommen sogar nobel. Nobler, im Nachhinein betrachtet, als Leo es gewesen war.
Der Trauerzug bewegte sich dem Kommentator zufolge von der Exe in Richtung Stadtzentrum. Die Strecke war von noch mehr Zuschauern gesäumt als erwartet; von den Hauseingängen bis zum Bordstein standen sie dicht gedrängt auf den Gehwegen. So viel zu den Prognosen der »Experten«, dass die meisten es vorziehen würden, im Stillen zu trauern, in der Trost spendenden Umgebung der eigenen vier Wände, wie sie es ausgedrückt hatten. Wahrscheinlich hatten sie bei der Einschätzung der Zuschauerzahlen genauso danebengegriffen. Sechs Millionen Menschen würden die Übertragung in Wohnzimmern von Truro bis Thurso verfolgen, hatten sie geschätzt.
Leo sah, dass Megan kurz zu ihm rübersah. Nur kurz, aber er wusste, was dieser Blick bedeutete. Sieh dir das an, Leo. Sieh dir an, was das für eine Riesensache ist.
Es war erstaunlich, das musste er zugeben, dass das Leben einer Einzelnen sich auf so viele auswirken konnte. Der Tod einer Einzelnen, besser gesagt; die Art ihres Todes. Schon zum zweiten Mal redete der Fernsehsprecher jetzt von der »tiefen Anteilnahme«, und auch wenn Leo Einwände gegen den ersten Teil dieser Sentimentalität erhoben hätte, ließ sich nicht bestreiten, dass Anteilnahme vorhanden war. Die schiere Wucht der Zahlen ließ sich kaum ignorieren.
»Sieht er sich das auch an?«, fragte Megan, zum Bildschirm gewandt. »Man müsste ihn dazu zwingen.«
Leo sah noch einmal kurz zu ihr hinüber, sagte aber nichts.
Statt des
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